Freiwild
Schreiben, machte ich mir Gedanken über das Leben, was es mir bedeutete, was es zu bieten hatte und, ob ich es tatsächlich genug auskostete. Noch während der Schulzeit hatte man mir diagnostiziert, dass ich depressiv war, wahrscheinlich einer der Gründe, weshalb ich sie auch abbrach.
Ich hatte meine Eltern nie kennengelernt, denn ich war im jungen Kindesalter schon zu Pflegeeltern abgeschoben worden und dann immer weiter herumgereicht worden, bis ich in einem der Jugendbetreuungshäuser des Landes untergebracht worden war. Deswegen hatte ich mich auch schon seit je her in meine Fantasiewelt geflüchtet, denn dort konnte ich sein, wer ich wollte, fand Akzeptanz und konnte die Welt und ihre verdorbene Gesellschaft nach meinen eigenen Vorstellungen gestalten.
Nach mehreren Gelegenheitsjobs hatte ich schließlich Robert kennengelernt, der glaubte, eine Art Schreibtalent bei mir festzustellen und begann, mich zu fördern. Das erste meiner Bücher verkaufte sich rasend schnell, der Erfolg bei den nachfolgenden Werken blieb allerdings aus. Seitdem versuchte ich an den anfänglichen Erfolg erfolglos anzuknüpfen- welch trauriges Wortspiel.
Während dieser Gedanken, klopfte es plötzlich an der Tür. Schwermütig erhob ich mich von meiner Couch und hievte mich vorwärts bis zum Wohnungseingang, um die Tür kurz darauf zu öffnen und gleich wieder zuzuschmeißen. Meine Fantasie spielte mir wieder einmal einen ihrer furchtbaren Streiche, denn meine Augen hatten mir Alexander vor der Tür serviert.
Es klopfte wieder. Abermals öffnete ich die Türe, um in seine tiefbraunen Augen zu sehen.
"Komme ich ungelegen?", fragte mich das Fantasiebild, die Vorstellung, die mir mein Unterbewusstsein schamlos fantasierte.
"Ja", entfuhr es mir, denn Trugbilder sollten keinen Einlass in meine vier Wände bekommen.
"Oh, das tut mir Leid, ich dachte, ich schaue vorbei, da ich in der Nähe war...", meinte die vermeintliche Fata Morgana und brachte mich mit seinem verzweifelten Gesichtsausdruck zu Lachen. Vielleicht sollte ich dieses Mal eine Ausnahme machen.
"Mein Geisteszustand lässt scheinbar mehr zu wünschen übrig, als ich dachte...", meinte ich dann, trat zur Seite und ließ Alexander, oder die Illusion von ihm, die ich in Gedanken erschaffen hatte, eintreten.
"Du störst nicht", setzte ich dann nach und korrigierte mich damit wieder, bot ihm etwas zu trinken an und schloss die Türe wieder.
Wenig später saßen wir wie schon wenige Tage zuvor mit zwei Gläsern Wein auf meinem Sofa. Provokant ließ er den Blick durch das Zimmer schweifen und lächelte.
"Hast du geschrieben?", fragte er und ich nickte, während mein Blick auf einen Stapel beschriebener Seiten schweifte.
"Eine Fantasie, ein Trugbild, vielleicht eine Fata Morgana, die Serena in der dunklen, unterirdischen Bar entdeckt hatte und die ihr seitdem zu schaffen machte...", las er laut vor und brachte mich zum Erröten. Ich lauschte dem Klang der dunklen, schweren Stimme, die langsam Wort für Wort laut wieder gab.
Nur für diesen Moment hatte es sich ausgezahlt, je geschrieben zu haben. Wenn Alexander den Mund öffnete und meine Gedanken aus ihm herausströmten, fühlte ich mich zum ersten Mal, als hätte ich etwas geschaffen, als wäre ich Teil des Gefüges der Welt, als wäre ich ganz. Er sprach die Wörter und Sätze aus, als hätten sie eine so tiefe Bedeutung, dass nicht einmal ich, der sie doch verfasst hat, sie erkennen könnte.
Ich war so ergriffen von der Schönheit des Moments, dass sich eine Träne aus meinen Augen löste und meine Wangen hinunterfuhr. Immer noch war ich mir unsicher, ob das gerade tatsächlich geschah, was sich hier vor meinen glasigen Augen abspielte, oder, ob mir meine Fantasie immer noch einen Streich spielte.
Nachdem er fertig gelesen hatte, blickte Alexander auf und sah mich an. Es war, als könnte er durch mich hindurch in mein tiefstes Inneres schauen, in das noch niemand, nicht einmal ich selbst, eingedrungen war.
"Schön!", stellte er dann fest und ich war mir sicher, dass es auf den Text bezogen war.
"Nein, du, nur du machst die Zeilen lesenswert...", antwortete ich und mir waren meine Tränen, die von meiner vollkommenen Ergriffenheit herrührten, keinen Moment lang unangenehm.
"Ich rede nicht vom Text...", sagte er da und strich mir mit seinen Fingern über die Wange, um die Tränenbahnen zu verwischen. Leicht verwundert blickte ich ihn an.
"Der ist es natürlich auch, aber du... Von dir rede ich!", sagte er da und
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