Eine Frau in Berlin
Anonyma
EINE FRAU IN BERLIN
Tagebuch-Aufzeichnungen
vom 20. April bis 22.Juni 1945
Mit einem Nachwort
von Kurt W Marek
Eichborn Verlag
ISBN 3-8218-4737-9
Copyright © 2002 Hannelore Marek
Copyright © Eichborn AG, Frankfurt am Main
Die Andere Bibliothek
Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger
2. Auflage 2003
Erfolgsausgabe
ISBN 3-8218-4737-9
Copyright © 2002 Hannelore Marek
Copyright © Eichborn AG, Frankfurt am Main 2003
Eichborn AG, Frankfurt am Main 2003
S & L Zentaur 03·06·24
Diese Ebook-Version: Smeeth, September 2010
Dieses Ebook ist nicht für den Verkauf bestimmt!
Vorwort
In drei dicht beschriebenen Schulheften liegen die Aufzeichnungen der Verfasserin aus der Zeit vom 20. April bis zum 22.Juni 1945 vor. Ab Juli 1945 schrieb sie für einen Menschen, der ihr nahestand, diese Hefte auf der Schreibmaschine ab. Dabei wurden aus Stichworten Sätze. Angedeutetes wurde verdeutlicht, Erinnertes eingefügt. Lose Kritzelzettel fanden ihren Platz an gehöriger Stelle. Es entstanden auf grauem Kriegspapier 121 engzeilige Maschinenseiten. Jahre später kamen sie Bekannten der Schreiberin zu Gesicht, darunter dem Schriftsteller Kurt W. Marek (C.W. Ceram), welcher die Meinung vertrat, daß hier über das persönliche Erlebnis hinaus ein Zeitdokument vorliege. Er übergab den Text einem Buchverleger in New York. Dieser brachte im Herbst 1954 eine Übersetzung heraus. Im Sommer 1955 folgte die britische Ausgabe. Es erschienen seither Übersetzungen ins Schwedische, Norwegische und Holländische, ins Dänische und Italienische, ins Japanische und Spanische, ins Französische und Finnische.
Die verständnisvolle Aufnahme ihres Berichtes in so vielen Ländern, dazu ihr Vertrauen in die heilende Kraft der seither verflossenen Zeit ließen die Schreiberin auch einer deutschsprachigen Ausgabe zustimmen. Aus Gründen menschlichen Taktes wurden im Manuskript alle Eigennamen und zahlreiche Einzelheiten verändert oder vertauscht. Daß die Schreiberin anonym zu bleiben wünscht, ist wohl jedem Leser begreiflich. Ihre Person ist ohnehin belanglos, da hier kein interessanter Einzelfall geschildert wird, sondern ein graues Massenschicksal ungezählter Frauen. Ohne ihre Aussage wäre die Chronik unserer Zeit, die bisher fast ausschließlich von Männern geschrieben wurde, einseitig und unvollständig.
Chronik, begonnen an dem Tag,
als Berlin zum ersten Mal der Schlacht
ins Auge sah.
Freitag, 20. April 1945, 16 Uhr
Ja, der Krieg rollt auf Berlin zu. Was gestern noch fernes Murren war, ist heute Dauergetrommel. Man atmet Geschützlärm ein. Das Ohr ertaubt, es hört nur noch die Abschüsse schwerster Kaliber. Eine Richtung ist längst nicht mehr auszumachen. Wir leben in einem Ring von Rohren, der sich stündlich verengt.
Zwischendurch Stunden von unheimlicher Lautlosigkeit. Plötzlich fällt einem der Frühling ein. Durch die brandschwarzen Ruinen der Siedlung weht in Schwaden Fliederduft aus herrenlosen Gärten. Der Akazienstumpf vor dem Kino schäumt über von Grün. Irgendwann zwischen den Alarmen müssen die Schrebergärtner gebuddelt haben, denn bei den Lauben an der Berliner Straße sieht man frisch umbrochenes Land. Nur die Vögel mißtrauen diesem April; unsere Dachrinne ist spatzenleer.
Gegen drei Uhr fuhr am Kiosk der Zeitungsfahrer vor. Es lauerten ihm schon zwei Dutzend Leute auf. Im Nu verschwand er zwischen Händen und Groschen. Gerda vom Portier ergatterte eine Handvoll »Nachtausgaben« und ließ mir eine. Gar keine richtige Zeitung mehr, bloß noch eine Art Extrablatt, zweiseitig bedruckt und ganz feucht. Im Weitergehen las ich als erstes den Wehrmachtbericht. Neue Ortsnamen: Müncheberg, Seelow, Buchholz. Klingt verdammt märkisch und nah. Ein flüchtiger Blick auf die Westfront. Was gehen uns jetzt die an? Unser Schicksal rollt von Osten heran und wird unser Klima ändern, wie es einmal die Eiszeit tat. Warum? Man quält sich mit unfruchtbaren Fragen. Ich will jetzt nur den Tag sehen, die nahen Aufgaben.
Um den Kiosk herum überall Gruppen von Menschen, käsige Gesichter, Gemurmel:
»Nein, wer hätte das gedacht.«
»So'n bißken Hoffnung hat wohl jeder noch jehabt.«
»Auf uns kommt's nicht an, wir sind Neese.«
Und, in bezug auf Westdeutschland: »Die haben's gut. Die haben's überstanden.« Das Wort »Russen« spricht keiner mehr aus. Es will nicht über die
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