Fremd fischen
überhaupt nicht kapieren, worum es geht. Kriegt nicht immer das hübscheste Mädchen den
Jungen ihrer Wahl? Genau so sollte die Welt doch funktionieren. Eine ältere Frau in einem einfachen Kleid schürzt die Lippen. Sie ist empört über den bloßen Vergleich – zwischen einem Verlobten und einem Schwarm aus der fünften Klasse! Du lieber Himmel! Eine äußerst gepflegte, beinahe schöne Frau in einem kanariengelben Chanel-Kostüm hat sich bereits mit Darcy identifiziert und verbündet. Ihr kann ich nichts erzählen, was sie umstimmen oder mein Verbrechen mildern könnte.
Die einzige Geschworene, die von der Ethan-Geschichte beeindruckt zu sein scheint, ist ein leicht übergewichtiges Mädchen mit einem strengen Bubikopf und einer Haarfarbe wie Kaffee von gestern. Sie fläzt sich am Rand der Geschworenenbank und schiebt gelegentlich die Brille auf ihrer Hakennase hoch. Bei diesem Mädchen habe ich Empathie gefunden, Gerechtigkeitssinn. Sie empfindet klammheimliche Genugtuung über das, was ich getan habe. Vielleicht hat auch sie eine Freundin wie Darcy, eine Freundin, die immer kriegt, was sie will.
Ich denke an die High School, wo Darcy weiterhin jeden Jungen kriegte, den sie haben wollte. Ich sehe es noch vor mir, wie sie an unserem Spind Blaine Conner küsst, und erinnere mich an den Neid, der in mir hochkam, als ich – ohne Freund – gezwungenermaßen ihre schamlose öffentliche Zurschaustellung von Zuneigung mit ansehen musste. Blaine war im Herbst des ersten High-School-Jahres aus Columbus, Ohio, an unsere Schule gekommen, und er war sofort überall ein Hit, außer im Unterricht. Er war nicht sehr helle, aber er war der Fängerstar in unserem Football-Team, der Spielmacher in unserem Basketball-Team und – natürlich – der erste Werfer im Baseball. Dabei sah er aus
wie eine Ken-Puppe, und die Mädchen liebten ihn. Doug Jackson, Teil zwei. Aber ach – er hatte eine Freundin namens Cassandra zu Hause in Columbus, und er behauptete, er sei ihr«hundertzehn Prozent treu»(ein Sportlerausdruck, der mir wegen seiner offenkundigen mathematischen Unmöglichkeit schon immer auf den Zwickel gegangen ist). Das heißt, er war es, bis Darcy sich einmischte, nachdem wir gesehen hatten, wie Blaine im Spiel gegen Central den gegnerischen Schläger alt aussehen ließ, und sie zu dem Schluss kam, dass sie ihn haben müsse. Am Tag darauf fragte sie ihn, ob er mit ihr in Les Misérables gehen wollte. Man sollte annehmen, dass ein Dreifach-Sportler wie Blaine nicht auf Musicals steht, aber er erklärte sich begeistert bereit, sie zu begleiten. Nach der Vorstellung machte er ihr im Wohnzimmer der Rhones einen dicken Knutschfleck am Hals. Und am nächsten Morgen war in Columbus, Ohio, eine gewisse Cassandra solo.
Ich erinnere mich, wie ich mit Annalise über Darcys zauberhaftes Leben redete. Wir unterhielten uns oft über Darcy – weshalb ich mich manchmal fragte, wie oft sie wohl über mich tratschten. Annalise behauptete, es liege nicht nur an Darcys gutem Aussehen und an ihrer perfekten Figur, sondern auch an ihrem Selbstbewusstsein und ihrem Charme. Das mit dem Charme – ich weiß nicht, aber rückblickend stimme ich Annalise zu, was das Selbstvertrauen angeht. Es war, als habe Darcy auf der High School die Perspektive einer Dreißigjährigen gehabt – die Einsicht, dass nichts von all dem wirklich wichtig ist, dass man nur einmal lebt und dass man deswegen lieber gleich in die Vollen geht. Sie war nie eingeschüchtert, nie unsicher. Sie verkörperte das, was alle sagen, wenn sie auf ihre High-School-Zeit
zurückschauen:«Wenn ich bloß damals gewusst hätte …»
Aber eins muss ich zu Darcy und ihren Dates noch sagen: Sie hat uns nie wegen eines Typen versetzt. Ihre Freundinnen standen immer an erster Stelle für sie, und das ist für ein High-School-Mädchen erstaunlich. Manchmal schob sie ihren Freund komplett ab, aber viel öfter nahm sie uns einfach mit. Vier in einer Reihe im Kino. Der Favorit des Monats, dann Darcy, dann Annalise, dann ich. Und Darcy richtete ihre geflüsterten Kommentare immer an uns. Damals dachte ich, sie liebt sie einfach nicht genug. Sie war dreist und unabhängig, anders als die meisten High-School-Mädchen, die sich von ihren Gefühlen für einen Jungen ganz verschlucken lassen. Aber vielleicht wollte Darcy bloß die Kontrolle behalten, und indem sie diejenige war, die weniger liebte, gelang ihr das. Ob ihr weniger an den Jungen lag oder ob sie nur so tat – jedenfalls behielt sie
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