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Fremde

Fremde

Titel: Fremde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gardner R. Dozois
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er erst Wochen später begreifen sollte.
    Er und Liraun befanden sich auf dem Rückweg von einer Ratsversammlung. Als Mutter von Shasine hatte Liraun nun eine Karosse, die von einem der traurigen Tausendfüßler gezogen wurde, sowie einen Kutscher, der ihr zu jeder Tages- und Nachtzeit zur Verfügung stand. Farber durfte nur auf besondere Anweisung hin mit der Kutsche fahren, und er erhielt stets viele ablehnende Blicke, wenn er sie bestieg oder verließ. An diesem Abend waren sie fast schon in der Row, als irgend etwas die Grabesstille, die zu dieser Nachtzeit in der Altstadt die Regel war, durchbrach: ein gespenstisches, klagendes Heulen von einem Musikinstrument, einem Horn vielleicht oder einer Flöte. Wieder ertönte es, disharmonisch und verzweifelt, ein Geräusch, wie es vielleicht eine verlorene Seele während ihres Abstiegs in die Hölle von sich gibt. Dann ertönte eine Trommel, hart, rasselnd, mit einem wahnsinnigen Rhythmus, der wie ein Betrunkener vor und zurück taumelte.
    Beim ersten Ton des »Horns« saß Liraun kerzengerade in der Kutsche, und Farber spürte, wie sie vor Angst zitterte. Jetzt – beim Ton der Trommel – schwankte sie und fuhr sich entsetzt an die Kehle. »Eine Opeinad!« flüsterte sie. Eine Sekunde lang saß sie still wie ein Stein, aber dann – Farber öffnete gerade den Mund, um zu fragen, was los sei – sprang sie auf die Füße und schlug gegen den Kutschersitz, um den Wagenlenker aufmerksam zu machen. »Die Opeinade! Suche sie! Folge den Tönen!«
    Der Kutscher drehte sich um und starrte sie an. Sein Gesicht sah ablehnend verständnisvoll aus. »Aber Mutter, Ihr wißt, daß ich das nicht tun kann …«
    »Tu, was ich dir sage«, knurrte Liraun. »Suche sie. Sofort!«
    Achselzuckend und murmelnd drehte der Fahrer den Wagen und lenkte ihn den Weg zurück. Farber streckte die Hand aus, um Liraun zurückzuziehen, aber sie schüttelte ihn ab und blieb stehen und hielt sich am Sitz des Kutschers fest. »Liraun …« begann er, doch da beugte sie sich nach vorn und rief: »Schneller!« Ohne sich umzudrehen sagte der Kutscher mit erstickter, ablehnender Stimme: »Aber Mutter …« Liraun schlug ihn mit der flachen Hand in den Rücken, so fest sie konnte, und schrie: »Schneller! Die kalten Wesen werden dich verschrumpeln lassen, wenn du nicht schneller fährst!« Das reichte dem Kutscher. Niemand wollte, daß ihm eine Mutter von Shasine etwas Böses wünschte. Zischend trieb er den Tausendfüßler mit einem langen Stock an. Der Tausendfüßler muhte traurig, schüttelte sich und begann mit der doppelten Geschwindigkeit dahinzugleiten, rumpelte über die Steine und Furchen auf der Straße.
    Unglücklicherweise hatte die Karosse nicht das vielfache Aufhängesystem wie der Tausendfüßler: Sie tanzte und holperte wild, während Farber Liraun zuschrie, sich hinzusetzen. Sie ignorierte ihn. Farber konnte kaum sitzen bleiben, doch Liraun hielt sich leicht aufrecht, verlagerte bei jedem Stoß das Gleichgewicht, als surfe sie – reglos starrte sie vor sich in die Dunkelheit; die Haltung von Nacken und Kopf verriet ihre Spannung und Angst. Schließlich tauchten Lichter auf: Fackeln tanzten vor ihnen unten am Hügel wie ein Zug aus leuchtendroten Edelsteinen. »Sie gehen zum Platz der Segnung!« rief Liraun über das Rasseln der Räder hinweg. »Hier entlang! Häng sie ab!« Sie schlug wieder gegen den Sitz des Kutschers. »Schneller!« Gehorsam lenkte der Kutscher den Wagen in ein Gäßchen, auf das Liraun gedeutet hatte, was die Karosse fast umwarf. Sie holperten einen steilen Abhang hinab. Blaue Funken sprühten unter den Rädern hervor, als der Kutscher zu bremsen versuchte, damit sie das Tier nicht überrollten. Farber hing verwirrt und vernachlässigt auf seinem Sitz und biß die Zähne zusammen, versuchte, nicht daran zu denken, wie hart sie aufkommen würden auf dem Steinpflaster, wenn die Karre umfiel.
    Holpernd und schwankend rollten sie auf den Platz der Segnung.
    Liraun hatte es gut abgepaßt. Der Platz war noch leer, aber sie konnten das Horn näherkommen hören ebenso wie das Staccatorasseln der Trommeln, und daneben war ein Ton, wie ihn eine große, wütende Biene von sich geben konnte: ein einstimmiges, rätselhaftes Summen.
    Die Kutsche kam kreischend zum Stillstand. Die Bremsen wirbelten drei Fuß hoch die Funken in die Luft, und sie war noch nicht völlig zum Stehen gekommen, als Liraun heraussprang und auf die Mitte des Platzes zurannte. Farber jagte ihr nach, rief ihren

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