Fremde
hoch. Dort stand ein Mann auf dem Dach eines jener hohen Gebäude am Rand der Esplanade, sechs Stockwerke hoch, stand mit den Händen im Nacken verschränkt. Ein paar Schritte hinter ihm stand ein Diener mit einem bronzenen Gong und einem Klöppel. Der Diener schlug wieder und wieder den Gong, bis die Klangwellen überall über die Terrasse wehten und jeder hochblickte. Zufrieden, daß alle Augen auf ihm ruhten, entfaltete der Mann die Hände, berührte die Brust und verbeugte sich. Dann trat er zum Rand des Daches, hob die Arme wie ein Turmspringer und warf sich in die Luft.
Der Mann schien lange Zeit in der Luft über Farber zu schweben und hatte die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt. Das Haar flatterte im Wind. Das Gesicht blickte ernst. Und dann wurde er plötzlich schneller, sauste herab und vorbei, da er den Sprung so berechnet hatte, daß er an der Esplanade vorbeikam. Der Wind trieb ihn weit hinaus, der Neustadt zu, den lotrechten, dreihundert Fuß tiefen Abhang hinab auf die Dächer von Brundane. Er wirbelte herum, wurde kleiner, ein Püppchen von der Größe eines Fingernagels, ein Tupfen, ein Fleck, verschwand vollständig, verschluckt von Ferne und Tod.
Farber hatte ihn erkannt.
Es war Lord Vrome.
Oder besser. Es war Lord Vrome gewesen.
Eine oder zwei Wochen später ging Farber in der Dämmerung durch eines der schmalen, engen, gewundenen Gäßchen im Inneren der Altstadt, als er von Angesicht zu Angesicht auf einen Entgegenkommenden stieß. Ein flüchtiger blutroter Sonnenstrahl, der durch einen Schacht zwischen dunklen Felsen herabfiel, beleuchtete das Gesicht des Mannes.
Es war Lord Vrome.
Farber rang nach Luft und wich gegen die Mauer zurück, war zu verdutzt, um auch nur erschreckt zu sein. »Lord Vrome!« flüsterte er, fühlte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich und seine Lippen taub wurden. Der Mann sah ihn an, das unmögliche Gesicht unbewegt und entrückt, und sagte: »Sie irren sich. Ich bin nicht Lord Vrome. Mein Name ist Tanar sur Rine.«
Er schob sich an Farber vorbei – der vor der Berührung zurückwich – und ging weiter, war innerhalb von fünf Schritten in der schleimigen Dunkelheit verschwunden.
Farber starrte ihm lange Zeit nach, bemüht, noch etwas von ihm zu sehen. Es war Lord Vrome gewesen: Das gleiche Gesicht, Zug für Zug, Körper, Statur und Gangart, alles gleich, nur die Kleidung war anders.
Aber es konnte nicht Lord Vrome gewesen sein.
Farber ging weiter. Gänsehaut überzog seinen Körper. Angstvoll blickte er in dunkle Ecken; die unheimliche Stille und das Geheimnis der Altstadt legten sich auf ihn wie ein Gewicht.
In jener Nacht träumte Farber, er sei bei der Erzeugung des Lebens zugegen.
Das war noch, bevor irgend etwas existierte, nicht einmal Berge und Meer, und die Erde war grau und glatt wie eine Billardkugel.
Farber – oder Farbers Blickpunkt, da er keinen Körper hatte – schwebte über der flachen, aschfarbenen Ebene, die sich in alle Richtungen unendlich weit zu erstrecken schien. Dann erschienen unter seinem Blick die Götter am Horizont und blickten hinab in die Welt. Es waren zwei, unendlich groß, vage humanoid, mit den leeren, roh geschnittenen, übergroßen Augen der Statuen auf den Osterinseln. Steif begannen die beiden Götter – jeder Meilen groß, und Sturm und Blitze jagten ungeachtet um sie her – nachdenklich auszuschreiten. Unter ihrem Gewicht sank der Ascheboden tief ein und rauchte. Sie gingen entschlossen geradeaus, Seite an Seite, blickten geradeaus, an Farbers Standpunkt vorbei auf den Horizont zu, verkleinerten sich zur Größe großköpfiger Tiki-Totems, verschwanden um den Planeten herum. Sie ließen eine lange Doppellinie tiefer Fußabdrücke hinter sich zurück. Jeder Abdruck füllte sich mit Wasser und strahlte mit einem gespenstischen blauen Schein. Langsam begannen sich die Abdrücke zu vergrößern, zu verschmelzen, breiteten sich in immer größer werdenden Kreisen aus, und die Älteren Wesen, die auf der Ascheebene lebten, Wesen, die lebten, ohne lebendig zu sein und ohne Zuflucht im Fleisch, Überbleibsel des Urchaos, zogen sich angeekelt vor diesen Tatsachen der Kausalität und des Lebens zurück. Wenn die Spuren sich trafen, nachdem sie den ganzen Planeten umzogen hatten, würde das Chaos vertrieben, die Zeit würde beginnen, und die Fruchtbare Erde würde geboren sein.
Farber verließ seinen Standpunkt, um in einen der Wassertümpel am Grund eines der Fußabdrücke der Riesen zu blicken, auf das
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