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Fremde

Fremde

Titel: Fremde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gardner R. Dozois
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Steinwänden und scheinbar auf dem Pflaster hockend, starrte Feuerfrau ihn mit ihren letzten Strahlen durch den langen Häusertunnel an – ein lidloses rotes Auge, das desinteressiert durch ein Mikroskop auf die kleine Welt darin blickte. Zum ersten Mal seit Monaten war die Luft warm genug für Regen. Ein feines Nieseln hing in der Straße, beschlug die Fenster und schwitzte aus den alten Steinwänden. Der Wind, der es mit sich trug, roch nach Frühling, nach feuchter, fruchtbarer Erde. Noch war der Frühling ein gutes Stück weit weg, aber er kam schnell näher, schnell genug, um das Kalte Volk unruhig auf seinen Thronen aus Felsen und Eis umherrutschen zu lassen, es aus seinen frostigen Träumen aufzuschrecken, so daß es sich sammelte, den Menschen einen letzten mörderischen Frost zu schicken. Farber sah die Row hinab. Es war Lirauns Prozession, die zurückkam, um es noch einmal zu versuchen. Die anderen Instrumente schwiegen, nur die Trommeln schlugen einen gedämpften Marsch. Als die Teilnehmer der Prozession nun den Platz vor Farbers Haus füllten, verstummten auch sie. Sonst war niemand zu sehen. Die Row hinauf und hinab waren die Türen geschlossen, die Fenster verhangen und blind. Farber trat vor und blieb mit gespreizten Beinen stehen.
    Dutzende von Augenpaaren richteten sich auf ihn und schimmerten wie nasse gelbe Steine.
    Der Twizan trat vor die Menge. Er sah nervös, aber entschlossen aus. »Bürger«, sagte er, »wir sind gekommen, unsere Tochter zu holen. Schicke sie zu uns.«
    Farber zog seine Pistole.
    »Bürger«, sagte der Twizan, »du darfst nicht versuchen, uns daran zu hindern. Es gibt keine andere Form für die Dinge, sich zu gestalten. Seit der Zeit des Ersten Ahnen …«
    »Hört mir jetzt zu«, sagte Farber mit flacher, ruhiger Stimme und senkte die Pistole. »Liraun wird nicht zu euch herauskommen. Es wird keine Prozession für sie geben, jetzt nicht und auch sonst nicht. Versteht ihr das? Und nun verschwindet hier vor meinem Haus. Geht weiter – alle! Geht hier weg!«
    Der Twizan zögerte, sah zu der Soúbrae, deren Gesicht kalt und unbeweglich war, dann sah er zu Farber. Der Twizan faßte sich und machte einen Schritt nach vorn. Noch einen Schritt. Die Prozession folgte ihm auf dem Fuße, die Talismane hochgereckt – Feuerfrau warf ihre unheimlichen, verzerrten Schatten über Farber, streifte sein Gesicht mit Dunkelheit.
    Farber hob die Pistole. Einer der Talismane, weiter entfernt zur Linken, war größer als alle anderen, ein riesiger, rotgesichtiger, pausbäckiger Kopf, der die Person des Windes verkörperte – es handelte sich dabei um einen gasgefüllten Lederballon, der nur bei den teuersten Prozessionen mitgeführt wurde und für den man zwei Männer brauchte, um ihn an der Kette zu halten. Farber feuerte darauf. Der Donner der großkalibrigen Waffe hallte furchtbar durch die enge, hohe Gasse und ließ jeden, auch Farber, erstarren. Nur der Kopf der Person des Windes bewegte sich: Er blähte sich, eine Falte lief von einer Wange zur anderen, er schien für einen Augenblick auf monströse Art anzuschwellen, und dann fiel er mit einem entrüsteten Zischen in sich zusammen, die Pausbacken fielen ein wie bei einem Verhungernden, die feurigen Augen legten sich über die Nase, die sich wiederum über den Mund legte, während die Unterlippe unnatürlich anschwoll, als der obere Teil des Kopfes sein Gas hineindrängte. Das ganze Ding sackte über den beiden Trägern wie ein zusammenfallendes Zelt zusammen und zwang sie mit gleichgültiger Schwere in die Knie. Die Menge – nach diesem Anblick keine Prozession mehr – war vor Entsetzen wie versteinert. Aber hier und da rückte doch wieder einer einen Schritt auf Farber vor.
    Wenn Farber mehr über Pistolen gewußt hätte, hätte er das, was er dann tat, nie gemacht. Er senkte die Waffe und feuerte schnell hintereinander zwei Schüsse auf das Kopfsteinpflaster vor den Füßen der Menge ab. Sofort spürte er, wie etwas Heißes an seinem Ohr vorbeizischte; ein Fenster klirrte; eine tikan zersplitterte einem Musiker in der Hand; ein anderer Musiker griff sich an die Schulter und wäre fast gestürzt; ein Juwelenauge splitterte aus einem Talisman – alles gleichzeitig, so schien es. Es gab dabei ein Geräusch, wie es eine sehr schnell tickende Uhr aus Steinen und Eisen verursacht hätte, durchsetzt mit winzigen, klingelnden Echos. In der engen Straße waren die Kugeln in Sekundenbruchteilen dreißig- oder vierzigmal als Querschläger

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