Freu dich des Lebens
stand. Ein anderer Offizier, der das hörte, meinte nachher erstaunt: »Aber, Herr General, wissen Sie denn nicht, dass dieser Mann, von dem Sie soeben in den höchsten Tönen gesprochen haben, einer Ihrer erbittertsten Feinde ist und keine Gelegenheit verpasst, um Sie zu verleumden?« - »Doch«, erwiderte General Lee, »aber der Präsident fragte mich nach meiner Meinung über ihn und nicht danach, was er von mir hält.«
Nebenbei gesagt erzähle ich Ihnen in diesem Kapitel gar nichts Neues. Vor über neunzehnhundert Jahren lehrte schon Christus: »Sei willfährig deinem Widersacher!«
Und zweitausendzweihundert Jahre vor Christi Geburt gab König Akhtoi von Ägypten seinem Sohn einen schlauen Rat, den wir heute nötiger haben denn je: »Sei diplomatisch, dann wirst du eher erreichen, was du dir vorgenommen hast.«
Mit anderen Worten: Streiten Sie sich nicht mit Ihrem Kunden oder Ihrem Ehepartner oder Ihrem Gegner herum. Sagen Sie ihm nicht, dass er Unrecht hat, reizen Sie ihn nicht, sondern seien Sie ein bisschen diplomatisch.
Achten Sie des anderen Meinung und sagen Sie ihm nie: »Das ist falsch.«
7. Der Weg zur Vernunft führt über das Herz
Wenn Sie verärgert sind und machen Ihrem Ärger Luft, dann fühlen Sie sich erleichtert. Aber was denken Sie, wie sich der andere fühlt? Glauben Sie, dass er Ihre Erleichterung teilt? Dass Ihr unfreundlicher Ton und Ihre feindselige Haltung ihn ermuntern, Ihnen beizustimmen?
»Wenn Sie mit geballten Fäusten auf mich losgehen, dann können Sie sicher sein, dass meine Fäuste mindestens so hart sind«, sagte Woodrow Wilson. »Wenn Sie aber kommen und vorschlagen, dass wir uns zusammensetzen und miteinander überlegen sollten, warum wir nicht gleicher Meinung sind und uns über die strittigen Fragen aussprechen sollten, dann werden wir bald feststellen, dass unsere Ansichten gar nicht so sehr auseinandergehen und nur in wenigen Punkten voneinander abweichen, in den meisten jedoch übereinstimmen, und dass wir uns mit ein bisschen Geduld und gegenseitigem Bemühen ohne weiteres einigen können, wenn wir es nur wollen.«
Niemand achtete die Wahrheit von Woodrow Wilsons Worten mehr als John D. Rockefeller junior. 1915 war Rockefeller der meistgehasste Mann in Colorado. Das Land hatte zwei Jahre lang unter einem der furchtbarsten Streiks in der amerikanischen Industrie gelitten. Erbitterte und erzürnte Bergleute forderten von der ›Colorado Kohle- und Eisengesellschaft‹, der Rockefeller damals vorstand, höhere Löhne. Zahlreiches Eigentum war zerstört, und Truppen waren zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung aufgeboten worden. Es kam zu blutigen Auseinandersetzungen, bei denen mehrere Streikende erschossen wurden.
In dieser von Hass geschwängerten Zeit wollte Rockefeller die Streikenden von seiner Idee überzeugen, und es gelang ihm tatsächlich. Nachdem er Wochen damit zugebracht hatte, Freunde zu gewinnen, richtete er das Wort an eine Abordnung der Streikenden. Seine Rede war ein Meisterstück und hatte einen unerwarteten Erfolg. Sie glättete die Wogen des Hasses, die Rockefeller eben noch zu verschlingen drohten, und schaffte ihm eine große Anzahl Bewunderer. Rockefeller wusste die Situation so verständnisvoll zu schildern, dass viele der Streikenden zu ihrer Arbeit zurückkehrten, ohne mehr ein Wort über die Lohnerhöhung zu verlieren, für die sie eben noch gekämpft hatten.
Ich will nur den Anfang dieser großartigen Rede zitieren. Achten Sie auf die freundschaftliche Gesinnung, die aus jedem Satz herauszuspüren ist. Und denken Sie dabei daran, dass Rockefeller zu Männern sprach, die ihn noch vor wenigen Tagen am liebsten an einem Laternenpfahl aufgehängt hätten. Trotzdem hätte er nicht gütiger und freundlicher sein können, wenn er eine Gruppe von Missionaren vor sich gehabt hätte. Seine Rede strotzte von Wendungen wie: Ich bin stolz darauf, vor Ihnen zu stehen; nachdem ich viele von Ihnen zu Hause besucht habe, viele von Ihren Frauen und Kindern kennen gelernt habe; wir sind hier nicht als Fremde zusammengekommen, sondern als Freunde; im Geiste gegenseitiger Freundschaft; unsere gemeinsamen Interessen; nur Ihrem Entgegenkommen habe ich es zu verdanken, dass ich jetzt hier stehe.
»Ich werde diesen Tag in meinem Kalender rot anstreichen«, hob Rockefeller zu sprechen an. »Es ist das erstemal, dass es mir vergönnt ist, mit den Vertretern der Arbeiterschaft unserer großen Gesellschaft sowie mit ihren leitenden Angestellten in
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