Frevel: Roman (German Edition)
England
Die königliche Standarte ist erhoben; einen Moment flattert sie in der Brise, hebt sich scharlachrot und golden vom wässrigen Blau des Himmels ab, und die Menge zieht vernehmlich den Atem ein. Die Zeit scheint stillzustehen, Schicksale hängen in der Schwebe – bis die Standarte gesenkt wird und von beiden Seiten des Turnierplatzes her Hufgedröhn ertönt, als die Konkurrenten in vollem Galopp aufeinander zujagen, sodass die prächtigen Federn auf ihren Helmen und am Zaumzeug der Pferde hinter ihnen herwehen. Ich wappne mich für den Augenblick des Zusammenpralls; ich habe nie gelernt, diese Turniere als Sport zu betrachten, aber gerade heute bin ich mehr als bereit, mich von der Festtagsstimmung mitreißen zu lassen, dem Prunk und Gepränge und der fast hysterischen Atmosphäre der Anbetung der Frau, die auf ihrer Galerie hoch oben über dem Tumult sitzt und deren Kopf über dem riesigen steifen Spitzenkragen zwergenhaft klein wirkt. Bei jeder ihrer Bewegungen blitzen ihre Juwelen im Sonnenlicht auf.
Castelnau neben mir erstarrt ebenfalls. Der uns am nächsten dahingaloppierende Reiter, dessen Pferd eine blau-weiß gewürfelte Schabracke trägt, hebt seinen Schild, um die Lanze seines Gegners abzuwehren; ein markerschütterndes Krachen ertönt, als der andere in die Schulter getroffen wird und ein paar qualvolle Sekunden lang versucht, sich im Sattel zu halten, aber die Wucht des Stoßes war zu groß, und er landet mit einem metallischen Knirschen im Sand. Johlender Beifall brandet auf; wir, die Zuschauer, springen auf, jubeln und stampfen mit den Füßen, bis die hölzerne Tribüne bedenklich unter uns zittert. Der siegreiche Reiter zügelt sein Pferd, wendet es und trabt über das Feld zurück, bevor er seinen Helm abnimmt und sich im Sattel tief vor der Königin verneigt. Irgendwo weiter östlich fällt eine Kirchenglocke in die Kakophonie mit ein.
Ich blicke zum Fenster der Galerie empor. Wir sind zu weit entfernt, um die königliche Gesellschaft genau erkennen zu können, obwohl Castelnau als ausländischer Würdenträger mit die besten Plätze zugewiesen bekommen hat. Aber ich kann Elisabeth in der Mitte ausmachen; sie ist von ihren weiß gekleideten Hofdamen umringt. Ich senke für eine Weile den Kopf und schließe die Augen – nicht in ein Gebet versunken, sondern im stillen Gedenken an Cecily Ashe. Wenn ihr Gewissen nicht über ihre Vernarrtheit in den Mann gesiegt hätte, den sie für den Earl of Ormond gehalten hat, wäre die Tudor-Linie vielleicht just an diesem Morgen beendet worden. Und wenn sie Fowler nie begegnet wäre, grübele ich, wenn sie nicht einen kindlichen Groll gegen die Königin gehegt hätte, wenn er weniger überzeugend und sie vorsichtiger gewesen wäre, könnte sie jetzt in ihrem weißen Kleid an Elisabeths Seite sitzen. Genau wie Abigail Morley – wenn sie nicht Cecilys Vertraute gewesen wäre, wenn sie mich nie kennen gelernt oder mir nicht den Ring gegeben hätte, könnte sie jetzt in die Hände klatschen und zusammen mit den anderen Mädchen auf der Galerie vor Vergnügen quieken. Wenn, immer wieder wenn.
Als ich den Blick über die Menge schweifen lasse, frage ich mich, ob sonst noch jemandem die Anzahl bewaffneter Wachposten inmitten der Herolde, der Gildemänner in ihren Livreen, der Ratsherren und Anwälte in ihren Amtsroben sowie der Bischöfe und Edelleute hinter der Königin aufgefallen ist. Im letzten Monat haben Beamte in jedem Hafen entlang der Südküste junge Engländer und Schotten angehalten und durchsucht, die aus Frankreich oder den Niederlanden kamen. Einer, der bei dem Versuch ertappt wurde, in Rye eine geladene Pistole durch den Zoll zu schmuggeln, trug auch katholische Reliquien in seinen Habseligkeiten versteckt bei sich, aber Fowler schweigt auch im Tower weiterhin beharrlich, daher kann niemand sicher sein, ob er bezüglich eines zweiten möglichen Mörders gelogen hat oder ob sich auch jetzt noch eine schattenhafte Gestalt unter die Tausende von Londonern gemischt hat, die sich hinter den Barrieren drängen, die entlang von Whitehall und dem Strand errichtet worden sind, wo die Königin nach dem Turnier vorbeikommen wird, um in St. Paul’s eine Predigt zu hören. Sie mag sich so ruhig und gelassen geben wie immer, aber wenn sie am Abend sicher in ihre Gemächer eskortiert worden ist, werden Walsingham, Burghley und Leicester einen der nervenzermürbendsten Tage ihres Lebens überstanden haben. Walsingham hat ihr zugeredet, auf die
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