Friedemann Bach
Kapitel I
Wer, von Halle kommend, den nördlichen Teil des lieben Thüringens betritt und das helle, regsame Weimar grüßt, hat kaum einen Begriff von der Stille und Abschlossenheit, in der das Bethlehem deutscher Poesie zu Anfang des 18. Jahrhunderts lag. Die wenigen Wege, die in die träumerische, von duftenden Matten durchzogene Talmulde führten, waren kläglich, und wenn unser aufkeimendes Geschlecht eine Fahrt nach Paris, London oder gar Amerika für eine halbe Bagatelle hält, so war doch damals eine Reise von wenigen Tagen ein gar bedenkliches Ding, das sehr lange erwogen und ohne die äußerste, peinliche Vorsicht und Vorbereitung kaum unternommen wurde, von den unverhältnismäßig hohen Kosten gar nicht zu reden.
In jenen Zeiten der idyllischen Selbstgenügsamkeit waren auch die geistigen Verkehrsmittel, das Zusammenströmen, Verschmelzen und Ausdehnen der Ideen durch Wort und Schrift noch höchst lückenhaft; daher kam es, daß einer ein sehr großer Mann sein konnte und doch weniger gekannt war als heutzutage ein Schneider, der seine Ware in jeder Zeitungsnummer lobpreisen darf.
Auch Weimar barg zu jener Zeit einen solchen Schatz, einen Künstler, dessen ewig junge Schöpfungen schon damals bewundert, aber von den wenigsten gewürdigt und begriffen, von der Masse indessen ignoriert wurden. Hier und da kannten ihn wohl einige der Besten seiner Zeit und flochten ihm den Lorbeer, doch kein Zeitungsartikel erhob sein Verdienst; auch die große Kunst der Reklame war noch nicht geboren, und -- wäre sie schon erfunden gewesen, der schlichte Meister im engen Häuschen zu Weimar, dort bei der Kirche, der hätte sich ihrer geschämt.
An einem reizenden Sommermorgen des Jahres 1717 kam auf schweißbedecktem Gaule ein Reiter die sogenannte große Straße, die von Sachsen herauf über Weimar nach Eisenach führte, einhergesprengt. Die Schöße seines zeisiggelben Rockes, der Busch seines ungeheuren, barettartigen Hutes fegten die Luft, und die unförmlichen Reiterstiefel kasteiten die Flanken seines Pferdes. Mit dem weißen Stabe, dem silbernen Wappen auf der Brust und dem Federmeer auf dem Haupte mußte man ihn für einen Herold halten, und wiewohl diese Gattung sehr werter deutscher Reichswürdenträger mit dem Dreißigjährigen Kriege schlafen gegangen war, schien er doch seinem Aus- sehen nach ein Glied dieser alten Gilde zu repräsentieren. Es war ein Kurier des Kurfürsten von Sachsen, August des Starken, an den Organisten Johann Sebastian Bach, der zum Staunen der guten Weimaraner vor jenem gebrech- lichen, von einem Gärtchen umschlossenen Hause abstieg, auf dessen Stelle später das Haus erbaut wurde, in dem Herder gelebt und gedichtet hat.
Mit der behaglichen Würde eines Mannes, der sich einer wichtigen, aber gewohnten Pflicht entledigt, schwang sich der Bote von seinem erschöpften Tier, band es bedächtig an und trat, nachdem er einen Moment seine dampfenden Weichen betrachtet hatte, in das Gärtchen ein. Alles war still, nur eine Löhnerin begoß die Beete, und in einer Geißblattlaube, die dicht am Eingang des Hauses stand, saß ein dreizehnjähriger Knabe und schrieb emsig auf einer Schiefertafel. Seine Arbeit schien ihn so ganz in Anspruch zu nehmen, daß sein Auge sich nicht vor dem Nahenden erhob. Auf der hohen Stirn, die fast zu breit und ausgebildet erschien für die dreizehn Sommer des Kleinen, perlte der Schweiß, - der Schweiß der Arbeit, wie er nur dem rastlos Strebenden eigen zu sein pflegt. Es lag überhaupt etwas Eigenes in dem Buben. Er war geistig frühreif; an jeglicher Bewegung, der Klarheit seines Auges, der straffen Haltung seines Körpers sah man, daß er sich schon jetzt seines Zweckes bewußt war, daß ihm der Gedanke, was er wohl wolle und könne, keine Skrupel mehr machte. In diesem dreizehnjährigen Buben hatte sich die qualvolle Arbeit der Jünglingsjahre, das Feststellen seiner Lebensziele bereits abgetan. Dieser sinnige Ernst, diese gedankenvolle, gewissermaßen eigensinnige Überzeugung seines Selbst, die in der schon ausgeprägten Plastik eines Kopfes lag, der auf dem schwächlichen Körper eines Kindes ruhte, verlieh ihm etvas Groteskes, fast Komisches, eine Art dünkelhafter Pathetik, in der ein weltkluger Beobachter den Keim zum tragischen Weh eines großen, unbefriedigten Strebens und Lebens woraussehen mochte.
Zweifelsohne lag diese Beobachtung dem kurfürstlichen Sendling fern; denn ungeduldig über die achtungslose Stille, fragte er: »Junge, gehörst
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