Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Dutzend Mädchen, die hinter ihren Bündeln mit schmutziger Wäsche kaum etwas sehen können. Um nicht umgerannt zu werden, tritt er (ohne zu klopfen oder zu kratzen) durch die nächstgelegene Tür und gelangt in einen Raum, einen weitläufigen Saal, wo in großen Terrakottakübeln etwa hundert kleine Bäume stehen. Obwohl Nordfranzose, eingefleischter Nordfranzose, weiß er von seiner Zeit in Diensten des Comte de S-, dass es sich um Zitronenbäume handelt. Zum Schutz gegen den kommenden Winter hat man sie mit Stroh und Sackleinwand umwickelt. Die Luft ist duftgeschwängert, sanftgrün, durch Reihen von Bogenfenstern fällt schräg das Licht ein. Er öffnet eines davon, klettert hinaus auf ein Wasserfass und springt hinunter in die Außenwelt.
Hinter ihm, im Schloss, schlagen zahllose Uhren die Stunde. Er zückt seine Taschenuhr. Wie der Anzug ist sie ein Geschenk, und zwar von Maître Perronet aus Anlass seines Schulabschlusses. Der Deckel ist mit dem allsehenden Auge der Freimaurer bemalt, obwohl er kein Freimaurer ist und auch nicht weiß, ob Maître Perronet der Gemeinschaft angehört. Als die Zeiger auf zwei Uhr vorrücken, vibriert die Uhr sanft auf seiner Handfläche. Er klappt den Deckel zu, steckt sie ein.
Vor ihm führt ein mit hellem Kies bestreuter Pfad zwischen Wänden aus gestutzten Hecken entlang, die so hoch sind, dass man nicht darüber hinwegsehen kann. Er folgt dem Pfad; es gibt sonst nichts, woran er sich orientieren könnte. Er kommt an einem Springbrunnen vorbei, dessen Becken kein Wasser enthält und bereits mit Herbstlaub gefüllt ist. Er friert und ist plötzlich müde. Er zieht seinen Reitmantel an. Der Pfad teilt sich. Wohin jetzt? Zwischen den Pfaden ist eine kleine Laube mit einer halbkreisförmigen Bank und über dieser ein steinerner, mit Flechten gesprenkelter Cupido, dessen Pfeil auf denjenigen zielt, der unterhalb von ihm sitzt. Jean-Baptiste setzt sich. Er entsiegelt das Papier, das Lafosse ihm gegeben hat. Es enthält die Adresse eines Hauses, wo er Quartier nehmen soll. Er schnürt den Beutel auf, schüttet sich einige der schweren Münzen auf die Handfläche. Hundert Livres? Vielleicht etwas mehr. Er ist froh darüber – erleichtert –, denn er lebt seit Monaten von seinen mageren Ersparnissen, schuldet seiner Mutter und Cousin André Geld. Zugleich sieht er, dass der Betrag nicht dazu gedacht ist, ihm zu schmeicheln. Er macht einen genau kalkulierten Eindruck. Der übliche Tarif für das, was auch immer er jetzt ist, ein Bauunternehmer, ein Mietling des Staates, ein Friedhofszerstörer …
Ein Friedhof !Er kann es noch immer nicht recht fassen. Ein Friedhof mitten in Paris! Ein bekannter Gottesacker! Was auch immer er auf der Reise hierher erwartet, was für ein Projekt auch immer er sich ausgemalt hat, das man ihm vielleicht anbieten würde – vielleicht irgendeine Arbeit am Schloss selbst –, das hätte er sich weiß Gott nicht träumen lassen. Hätte er sich weigern können? Die Möglichkeit ist ihm gar nicht in den Sinn gekommen, hat aller Wahrscheinlichkeit nach gar nicht bestanden. Was die Frage angeht, ob das Ausgraben von Gebeinen mit seinem Status, seiner Würde als Absolvent der Ecole Royale des Ponts et Chaussées vereinbar ist, so muss er eine Möglichkeit finden, gründlicher darüber nachzudenken … abstrakt. Er ist schließlich ein junger Mann mit Ideen, mit Idealen. Es kann nicht unmöglich sein, diese Arbeit als etwas Wertvolles, etwas Ernsthaftes aufzufassen. Etwas, was dem allgemeinen Wohl dient. Etwas, was die Verfasser der Encyclopédie gutheißen würden.
Vor der Bank hat sich ein Dutzend Spatzen eingefunden, die Federn zum Schutz gegen die Kälte gebauscht. Er sieht ihnen zu, wie sie gezaust über die Steine hüpfen. In einer Tasche seines Mantels – einer, die so tief ist, dass alle Spatzen hineinpassen würden – hat er etwas Brot von dem Frühstück, das er im Dunkeln, auf dem Rücken des Pferdes, verzehrt hat. Er beißt hinein, kaut, bricht dann ein Stück davon ab und zerkrümelt es zwischen Daumen und Zeigefinger. Beim Fressen scheinen die kleinen Vögel zwischen seinen Füßen zu tanzen.
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DEN STUHL an die rechte Seite des Wohnzimmerfensters im ersten Stock in der Rue de la Lingerie gerückt, saugt Emilie Monnard – allgemein als Ziguette bekannt – sanft an ihrer Unterlippe und sieht zu, wie über der Rue Saint-Denis, der Rue aux Fers und dem Markt von Les Halles der Tag zu Ende geht. Der Markt hat natürlich längst
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