Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
zusammengepackt, seinen essbaren Abfall haben diejenigen weggeschafft, die davon leben. Was bleibt, der Müll aus verschmutztem Stroh, Fischinnereien, blutdunklen Federn, dem Grünzeug von Blumen, die aus dem Süden hergebracht worden sind, all das wird über Nacht verwehen oder in der Morgendämmerung von Besen und Wasserschwällen verteilt werden. Sie hat das alles ihr Leben lang betrachtet, ohne dass es ihr je langweilig wurde, den Markt und – in ihrem unmittelbareren Blickfeld – die alte Kirche Les Innocents mit ihrem Friedhof, obwohl sich auf diesem seit Jahren nichts mehr tut; man sieht nur den Küster und seine Enkelin zu einer der Pforten gehen oder, seltener, den alten Priester mit seiner blauen Brille, den man offenbar schlicht vergessen hat. Wie sie das alles vermisst. Die vom Kirchentor heranschlurfenden, gewundenen Trauerzüge, die einander stützenden Trauernden, das Läuten der Glocke, die schwankenden Särge, dann das Gemurmel des Gottesdienstes und schließlich – Höhepunkt der Zeremonie – der Augenblick, in dem der Tote, Mann, Frau oder Kind, in die Erde gesenkt wurde, als gäbe man ihn ihr zu fressen. Und wenn die anderen gegangen waren und es auf dem Friedhof wieder still war, saß sie immer noch da und hielt, das Gesicht dicht am Fenster, Wache wie eine Schwester oder ein Engel.
Sie seufzt, blickt zurück auf die Straße, die Rue aux Fers, sieht Madame Desproux, die Frau des Bäckers, am italienischen Brunnen vorbeikommen und stehenbleiben, um mit der Witwe Aries zu reden. Und dort, beim Marktkreuz, ist Merda der Säufer. Und das ist Boubon der Korbmacher, der allein hinter seinem Laden in der Rue Saint-Denis wohnt … Und dort, vom Ende der Rue de la Fromagerie, kommt diese Frau in ihrem roten Mantel. Hat Merda ihr gerade etwas zugerufen? Es muss ihm eine Erleichterung sein, ein Geschöpf zu beleidigen, das noch tiefer steht als er, aber die Frau bleibt weder stehen noch dreht sie sich um. An Leute wie Merda hat sie sich längst gewöhnt. Wie groß sie ist! Und wie unsinnig gerade sie sich hält! Jetzt spricht irgendwer, irgendein Mann, sie an, obwohl er dabei Abstand hält. Wer ist es? Doch nicht etwa Armand (oder sollte man sagen, es ist nur allzu wahrscheinlich Armand)? Aber nun gehen sie auseinander und sind bald beide nicht mehr zu sehen. Wenn die Dunkelheit hereinbricht, werden einige der Männer, die sie bei Tageslicht hänseln oder beleidigen, ihr nachsteigen und eine Verabredung treffen, ein Rendezvous irgendwo in einem Zimmer mit ihr vereinbaren. Wird es so gemacht? Und sobald sie in dem Zimmer sind … Ah, sie hat es sich vorgestellt, es sich in allen Einzelheiten ausgemalt, ist sogar, in der Zurückgezogenheit und im Kaminfeuerschein ihres Schlafzimmers, heftig errötet bei solchen Gedanken, sündigen Gedanken, die sie eigentlich Père Poupart in Saint-Eustache beichten müsste und vielleicht auch beichten würde, wenn Père Poupart nicht einem gebrühten Schwein so ähnlich sähe. Warum gibt es in Paris keine gutaussehenden Priester? Man hat keine Lust, einem hässlichen Mann irgend etwas zu beichten.
»Ist jemand Interessantes auf der Straße, meine Liebe?« fragt ihre Mutter, die, eine Kerze in der Patschhand, hinter ihr ins Zimmer kommt.
»Eigentlich nicht.«
»Nein?«
Madame Monnard bleibt hinter ihrer Tochter stehen, streicht ihr über das Haar, fährt geistesabwesend mit einem Finger in dessen Fülle, die sie so sehr liebt. In der Rue aux Fers lehnt ein Lampenanzünder seine Leiter gegen die Lampe gegenüber der Kirche. Schweigend sehen sie ihm zu, wie er geschickt hinaufsteigt und mit seiner Kerze in den Glaskolben hineinlangt, wie gelbes Licht erblüht und er rasch hinuntersteigt. Als Madame und Monsieur Monnard dieses Haus bezogen, gab es in der Rue aux Fers noch überhaupt keine und in der Rue Saint-Denis kaum irgendwelche Lampen. Paris war damals dunkler, obwohl jeder daran gewöhnt, dagegen abgehärtet war.
»Ich fürchte«, sagt Madame, »unser neuer Mieter hat sich verirrt. Da er vom Land kommt, bezweifle ich stark, dass er imstande ist, sich bei so vielen Straßen zurechtzufinden.«
»Er kann sich durchfragen«, sagt Ziguette. »Französisch wird er ja wohl sprechen.«
»Natürlich spricht er Französisch«, sagt Madame, unsicher.
»Ich glaube«, sagt Ziguette, »er ist ganz klein und stark behaart.«
Ihre Mutter lacht, schlägt sich die Hand vor den Mund, die kleinen braunen Zähne. »Was für alberne Vorstellungen du hast«, sagt sie.
»Und er
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