Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
das Ende der Religion›.» Das ist schon eine Vision vom Ende jeglicher Götterwelt, einer Götterdämmerung im großen Stil, die auch den christlichen Gott einbezieht. Die erwachsen gewordene Menschheit verzichtet aufs Himmelreich und wendet sich lieber der Erde zu. «Männlich» ist das. Es bedarf keiner überirdischen Trostlehren und Parallelwelten mehr. War dem Siebzehnjährigen klar, was er da andachte? In seinen Lektürestudien bewegte er sich ohnehin in sehr viel wilderen, hauptsächlich vorchristlichen Zeiten, zum Beispiel in den Versen des Elegikers Theognis von Megara in archaischer Zeit, der die Ausschreitungen der Tyrannis thematisierte, in der Ilias, der Odyssee, im Nibelungenlied. Da waren überall dämonische Kräfte am Werke, die alles fortrissen, was «die kleinen, schwächlichen Naturen» mit ihrer Beschränktheit und ihren Moralisierungen nur nicht erfassen konnten: Leidenschaften, die Abgründe von Liebe und Hass, Rachedurst, der selbst der Sippen- und Kindesliebe Hohn spricht wie im Falle der Kriemhild, Zerstörungslust, Ruhmsucht, Neid, Selbstvermessenheit bis zur Gottesverachtung. «Nur volle, tiefe Naturen können sich einer furchtbaren Leidenschaft so völlig hingeben, dass sie fast aus dem Menschlichen herauszutreten scheinen» , heißt es in Nietzsches Schulaufsatz, der eine Charakterdarstellung der Kriemhild als Aufhänger hat. Der junge Autor verachtete bereits unverkennbar die christlichen Defensivtugenden. «Gott» Dionysos, ursprünglich ein phrygischer Fruchtbarkeitsdämon, der für den Rausch steht, für die Ekstase, in spätrömischer Zeit leider ein wenig inflationär zum Bacchus, zum Weingott verkommen, wird der einzige Gott sein, dem er die Treue hält. Tragischerweise ist Nietzsches Zugang zu dessen Sphäre weitgehend auf die Vorstellungsebene limitiert. In seiner größten Leidenschaft, der Musik, wird er das «Dionysische» hauptsächlich ausleben. Doch er wird lebenslang damit hadern, dass er das wurde, was eigentlich das größte Hindernis zum Dionysischen, zum «freien und starken Menschen» , zum Künstlertum und sogar zur authentischen Philosophie ist: ein Gelehrter – und, schlimmer noch: ein Historiker in der Philologie.
Nietzsche im Alter von etwa 17 Jahren.
Photographie von Ferdinand Henning.
Derzeit hatte der jugendliche Denker, der sich schon so weit vorwagte, dass er bereits den Horizont sehen konnte hinter den überschrittenen Grenzen, zu den Geschichtswissenschaften noch ein ambivalentes Verhältnis. Geschichte und Naturwissenschaft, meinte er in einer anderen kleinen Schrift, «Fatum und Geschichte» betitelt, seien die einzigen sicheren Grundlagen, auf denen wir den Turm unserer Spekulationen aufbauen könnten. Doch der ganze babylonische Turmbau, prophezeite der Siebzehnjährige, werde einst eingerissen werden von den gewaltigen Umwälzungen, die bevorstünden, «wenn die Menge erst begriffen hat, dass das ganze Christentum sich auf Annahmen gründet; die Existenz Gottes, Unsterblichkeit, Bibelautorität, Inspiration» und was alles noch. Doch der Denker formulierte die Skrupel gleich mit, die Konsequenzen, das Hadern und die Angst vor der eigenen Grenzüberschreitung: «Sich in das Meer des Zweifels hinauszuwagen, ohne Kompass und Führer, ist Thorheit und Verderben für unentwickelte Köpfe; die meisten werden von Stürmen verschlagen, nur sehr wenige entdecken neue Länder.» Und: «Die Macht der Gewohnheit, das Bedürfniss nach Höherem, der Bruch mit allem Bestehenden, Auflösung aller Formen der Gesellschaft, der Zweifel, ob nicht zweitausend Jahre schon die Menschheit durch ein Trugbild irre geleitet, das Gefühl der eignen Vermessenheit und Tollkühnheit: das alles kämpft einen unentschiedenen Kampf, bis endlich schmerzliche Erfahrungen, traurige Ereignisse unser Herz wieder zu dem alten Kinderglauben zurückführen.» Und so ging es auch ihm, immer wieder. Niederreißen war leicht, aber aufbauen! Da würde er wohl doch noch ein ganzes Leben benötigen, um so weit zu kommen. Die Prophetie ist gespenstisch, und die Reflexionen des Schülers in Schulpforta bezeichnen im Grunde die erste Werkphase von Nietzsches Philosophie. Die Texte sind gerade so lang wie ein durchschnittlicher Schulaufsatz. Er schrieb sie neben den zahlreichen anderen, die er als Hausaufgaben von seinen Lehrern bekam, etwa das Thema «Warum ging Cicero ins Exil?» oder «Inwiefern ist der Ackerbau als die Grundlage aller gesetzlichen Ordnung und Gesittung zu betrachten?» Es
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