Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
der Anfangszeit schlimmes Heimweh bekam. Der Junge hatte sich schrecklich gequält, um den Anforderungen des Instituts bei der Aufnahmeprüfung genügen zu können, war um fünf Uhr aufgestanden, um noch vor der Schule zu lernen, und hatte bis in die Nacht hinein weitergelernt. Als er über Augenschmerzen wegen Überanstrengung klagte – er war extrem kurzsichtig, was ihn wohl auch an der unbeschwerten Teilnahme an kindlichen Spielen behinderte –, gab ihm eine seiner tugendhaften Tanten den Rat, sich Kornbranntwein über die Augen zu kippen. Der freundliche Rat samt therapeutischem Duktus mag für so manches stehen, was in dem Mikrokosmos dieses Milieus in Nietzsches Familienhaushalt den Umgang mit Allzumenschlichem kennzeichnete; aber vielleicht hielt man die Maßnahme auch einfach für ein probates Hausmittel. Dass Friedrich Nietzsche später als junger Mann ein solcher Komet am philologischen Himmel wurde, ein solcher Frühvollendeter, der sich sogar den Umweg der Promotion und Habilitation sparen konnte, um mit vierundzwanzig Jahren ordentlicher Professor in Basel zu werden, verdankt er sicher der Zucht dieser Jahre. Aber die Leistung kam nicht von ungefähr, bei aller Begabung. Der junge Nietzsche lernte bis zur Erschöpfung, Griechisch vor allem, worin er schon fürs Domgymnasium eine nur unvollständige Grundlage mitbrachte (und gerade hier sollte er später so glänzen). Das Internatsgymnasium Schulpforta, das heute noch existiert, bezieht seine historische Reputation nicht zuletzt aus der später prominenten Schülerschaft, die aus ihm hervorging: Klopstock, Novalis, Fichte, später etwa Leopold von Ranke, Georg Groddeck – und eben Nietzsche. Es gab hervorragende Lehrer in Schulpforta, und es herrschte ein humanistisch orientiertes Bildungsideal. Nicht nur die hier unterrichtenden Altphilologen, sondern zum Beispiel auch der Germanist Karl August Koberstein, der ein Handbuch der Geschichte der deutschen Nationalliteratur verfasst hatte, legten bedeutende Grundsteine zu Nietzsches geistigem Weg, und der Unterricht ging über eine reine Vorbereitung zum Universitätsstudium deutlich hinaus. Nach heutigen Maßstäben implizierte er eigentlich schon ein Grundstudium, wenn nicht noch mehr. Das Reglement des Instituts war preußisch, auf Disziplin, Ordnung, Ertüchtigung ausgerichtet: Aufstehen zwischen vier und fünf Uhr, Beten, Kontrollgänge der Inspektoren und wieder Beten, dazwischen regelmäßig auch sportlicher Drill. Ein randvolles Unterrichtspensum und ein spartanisches Klosterleben – doch Friedrich Nietzsche war von zu Hause her ja auch nicht gerade verwöhnt. Die Plätze in Schulpforta waren Freiplätze, Stipendien für Hochbegabte, wenn man so will, und die Pfarrerswitwe Franziska Nietzsche musste mit ihrer kleinen Rente und ihren hohen Erwartungen an den einzigen Sohn darauf drängen, dass Friedrich auch standhielt und das Vertrauen verdiente. So schrieb er dann regelmäßig an sie und die Tanten ordentliche Berichte über sein absolviertes Programm, also wie brav er war und wie fleißig – es gab in dieser Zeit kaum eine andere bekundete Haltung eines Heranwachsenden zu den Anforderungen. Unterm Triumphkreuz der Zisterzienser, im Kreuzgang, in der Abtskapelle und in den Schulgebäuden des ehemaligen Klosters St. Marien zur Pforte, 1540 im Zuge der Reformation von Herzog Heinrich V. von Sachsen geschlossen sowie von seinem Nachfolger, dem späteren Kurfürsten Moritz von Sachsen umgewandelt zur Landesschule für Knaben, vollzog sich also in den kommenden Jahren Nietzsches Entwicklung. Wenn er hier noch immer seiner Frömmigkeit huldigte und eine stimulierende Kulisse dafür besaß, war er doch gleichzeitig durch die gründliche philologische Schulung, die er erhielt, ausreichend angeregt zu kritischem Denken – ausreichend für ein Gegengewicht, Unverträglichkeiten, die realisiert wurden, vielleicht Kollisionen. Wann das so war und ab wann ihm der christliche Gottesglaube suspekt wurde, um dann angeblich ganz schmerzfrei und übergangslos wie eine zu eng gewordene Haut abgeworfen zu werden, verrät er uns nicht so genau. Es ereignete sich in den Pfortaer Jahren, aber noch nicht gleich am Anfang. Nietzsches Schulfreund Paul Deussen, mit dem ihn noch manches auf der späteren Wegstrecke verband, veröffentlichte 1901 nach Nietzsches Tod die kleine Schrift «Erinnerungen an Friedrich Nietzsche», worin er sich unter anderem an die gemeinsame Konfirmation in Schulpforta Ostern 1861 erinnerte.
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