Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
wiedererkennen. Elisabeth zog ihm immer ein weißes Gewand an, ein Priestergewand, wenn sie ihn, in seinem Rollstuhl sitzend, die Hände gefaltet, den Kopf seitwärts, den Blick starr in eine Richtung gesenkt, den Besuchern vorführte. Ein Heiliger war das. Der Nietzsche-Kult hatte begonnen. Hans Olde hat den umnachteten Denker gezeichnet und außerdem eine ganze Serie von Photographien von ihm erstellt. Sie hängt fortlaufend in Nietzsches letztem Domizil, «Villa Silberblick» in Weimar, heute in der Humboldtstraße 36, und ergreift jeden noch so robusten Besucher mit einem Grusel der Abgründigkeit. Von allen Seiten verfolgt einen der stiere Blick, der ins Leere geht. Die buschigen Augenbrauen, vor allem aber der gewaltige Schnurrbart, den Elisabeth noch betonte, wirken grotesk. Die eingefallenen Wangen und die Schatten in diesem Gesicht deuten auf einen Todkranken. Dabei hatte Nietzsche, wenigstens bis in die letzten Jahre in Naumburg, in fast allen Lebensphasen einen erstaunlich frischen, rosigen und fast immer gebräunten Teint. Früher auf Wanderschaft in schönen und sonnigen Gegenden, verbrachte doch auch der Kranke und der Umnachtete immer noch sehr viel Zeit auf der Veranda und später in Weimar auf dem Balkon. Wenn man einmal in diesem Weimarer Haus, dem des Endzeit-Nietzsche mit stierem Blick, als Gast übernachtet hat, dann beginnt man auch wider Willen an dunkle Wiedergänger zu glauben. Andere glauben daran auch im «Nietzsche-Haus» Sils Maria. Aber da ist die Luft dünner; Nietzsches Hochgebirgsszenerie hat von grundauf eine leichtere Ausstrahlung, und hier ging es ihm schließlich auch relativ gut. Das vermittelt der Ort.
Elisabeth Förster-Nietzsche, wie sie sich fortan nannte, hat schon zu Lebzeiten der Mutter begonnen, ihr Nietzsche-Archiv, für das sie viel Platz brauchte, Arbeits- und Konferenzräume und eine ungestörte Umgebung, in die Klassikerstadt zu verlagern. Das wird kaum ein Zufall sein, vielmehr der Gedanke an standesgemäßen Anschluss in der Kulturtradition. Meta von Salis, Nietzsches Geistesfreundin der letzten Jahre in Sils, kaufte dann 1897 das Haus «Villa Silberblick» und stellte es dem Nietzsche-Archiv zur Verfügung. In einer Nacht- und Nebelaktion brachte man schließlich am 1. Juli den kranken Nietzsche in dieses Haus, das erst von Adalbert Oehler, einem Cousin der Geschwister, und dann nach Nietzsches Tod von Elisabeth aufgekauft wurde und durch Henry van de Velde zu einer Perle der Jugendstil-Architektur innen und außen wurde – bis heute. Ein kleiner Junge aus der Nachbarschaft kam damals ganz aufgeregt aus der Schule nach Hause und rief: «Papa, weißt Du? Droben ist ein wahnsinniger Philosoph eingezogen!» Wenigstens brüllte er jetzt nicht mehr wie noch in Naumburg, woraufhin die Mieter der Nietzsches alle nach und nach auszogen. Die Besucher im großen Empfangszimmer unten, das Elisabeth schon museal eingerichtet hatte mit ausgestellten Manuskriptsammlungen, Büchern und Bildern, hörten nur von Zeit zu Zeit durch die Zimmerdecke sein ungeduldiges Fußstampfen, während sie beim Diner saßen. Vereinzelt will man ihm noch Aussprüche von den Lippen gelesen haben, etwa, als man ihm ein Buch in die Hände legte, die Frage: «Habe ich nicht auch gute Bücher geschrieben?» Die Alwine, ehemalige treue Dienstmagd der Mutter, versorgte seinen sterblichen Leib Tag und Nacht, während Elisabeth seine Unsterblichkeit auf ihre Weise beförderte.
Elisabeth Förster-Nietzsche, um 1894.
Ursprünglich mit dem Einverständnis Franziska Nietzsches hatten sich Overbeck und Köselitz die Verantwortung für Nietzsches Nachlassverwaltung geteilt. Als Elisabeth jedoch 1893 endgültig aus Paraguay zurückkehrte, beanspruchte sie alle sachlichen und rechtlichen Entscheidungsfragen über die Herausgeberschaft seiner Werke für sich. 1894 gründete sie, noch in Naumburg, das Nietzsche-Archiv. Heinrich Köselitz alias «Peter Gast» erwies sich nach einigen Anfangskonflikten als willfähriges Hilfsorgan für ihre Zwecke; auch für Kritiker bleibt es ein wenig rätselhaft, wie das geschah. Da Elisabeth Förster-Nietzsche sehr alt wurde und 1932 noch Adolf Hitler feierlich in der Humboldtstraße empfing, befand sich die in zwei Lager gespaltene Nietzscheforschung weit über ihr Todesjahr 1935 hinaus in einem jahrzehntelangen Kampf, bis zwei Italiener in den neunzehnhundertsechziger Jahren das Wagnis begannen, in entbehrungsreicher Arbeit vor Ort die heutige, gültige, noch immer in der
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