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Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Titel: Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Appel
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Décadent ist indessen gerade durch seine, mit Vitalschwäche einhergehende Hypersensibilisierung derjenige, an dem sich die schneidenden Verluste und das Leiden darum prismatisieren. Seine mangelnde Vitalkraft wird wettgemacht durch einen hellsichtigen, alles durchdringenden Geist. Doch er ist absteigendes Leben und muss überwunden werden. Die Décadence ist somit das Krisensymptom einer zerfallenden Welt, die sich neu aufbauen muss – und das ist das Ziel, Nietzsche sein Propagandist. Für ihn hat das Dionysische ganz erheblichen Anteil an dieser aufsteigenden Linie am Horizont. So jedenfalls hat er es in seinem letzten Wahn prognostiziert.
    Drei Jahre vor seinem geistigen Tod las er Bourget. Der französische Kulturkritiker analysierte die Befindlichkeit der Moderne, das Vakuum einer entzauberten Welt und ein Individuum, das sich mit allen möglichen raffinierten Formen des Weltzugangs und der Welthaltungen über dieses Dilemma hinweghelfen muss. In seinen «Essais de Psychologie Contemporaine», erschienen 1883, beschreibt er vor allem die Folgen eines Subjektivismus, der das Ich in eine bedenkliche Diskrepanz zur Realität gebracht hat, hat es doch, wie der Kulturkritiker sagt (und das ist für uns, die wir im Medienzeitalter leben, eine ziemlich erstaunliche und auch vorwegnehmende Diagnose), immer schon Bilder der Realität vor der Realität in sich getragen und die Vorstellung von Gefühlen vor den Gefühlen. Eine sonderbare Indifferenz, Gefühlskälte, seelischer Stumpfsinn ist eine von zahlreichen Symptomen der Degenereszenz beim modernen Menschen und seiner «Nervosität». Mit Verwandlungskunst, spielerischem Skeptizismus behelfen sich allerdings die höher Gearteten, um mit dem Phänomen Nihilismus in der modernen Welt umzugehen. Bourget bezeichnet diese Geisteshaltung als Dilettantismus, was an einigen Stellen nicht allzu weit davon entfernt zu sein scheint, was Nietzsche als Eigenschaften des freien Geistes beschreibt. Die Grenzen sind fließend, das weiß auch der Philosoph. In einer Zeit jenseits von Gut und Böse, in der man sich fragen muss, ob vielleicht sogar Gott nicht nur eine Erfindung des Teufels ist, sind auch Vexierspiele und perspektivische Wahrheit nur schwer unterscheidbar, und am Ende ist eigentlich doch alles Schein. Der Dilettant, auf der Flucht vor dem Bekenntnis, vor dem Glauben, vor dem Ideal der Werte und vor dem eigenen Ich, lebt in der Vielfalt der Erscheinungsformen, mal diese, mal jene annehmend, in dem Bewusstsein, dass das Ich alles sein, die tausend Gesichter und Facetten annehmen kann, die ihm in der Formenfülle der Möglichkeiten gegeben sind. Nur diese Wandlungsfähigkeit als Geistes- und Lebenshaltung entspricht im Grunde einer sich wandelnden, kontingenten und sinnlosen Welt. Doch der Dilettant ist ein Schauspieler, kein redlicher Wahrheitssuchender, dubios, Trug im Herzen, sich selbst betrügend und ohne wahrhaftigen inneren Sinn. Das unterscheidet, so Nietzsche im Spätwerk, Wagner von Nietzsche. Die Lektüre von Bourgets Baudelaire-Aufsatz in den «Essais» brachte den Philosophen zu der Erkenntnis, es sei das stilistisch-ästhetische Hauptmerkmal der Décadence, dass die formale Einheit sich auflöse und die Einzelteile sich kompositorisch emanzipierten. Was aber bedeutete das? Es bedeutete, dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. So, wörtlich so, drückt er es aus in seinem Pamphlet «Der Fall Wagner», im Sommer 1888 entstanden: «Womit kennzeichnet sich jede literarische décadence? Damit, daß das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverän und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen – das Ganze ist kein Ganzes mehr. Aber das ist das Gleichnis für jeden Stil der décadence: jedesmal Anarchie der Atome, Disgregation des Willens, ‹Freiheit des Individuums›, moralisch geredet, – zu einer politischen Theorie erweitert ‹gleiche Rechte für alle›. Das Leben, die gleiche Lebendigkeit, die Vibration und Exuberanz des Lebens in die kleinsten Gebilde zurückgedrängt, der Rest arm an Leben. Überall Lähmung, Mühsal, Erstarrung oder Feindschaft und Chaos; beides immer mehr in die Augen springend, in je höhere Formen der Organisation man aufsteigt. Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt. –» Und so sei es denn auch, dramaturgisch und kompositorisch, um das Wagner’sche Œuvre

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