Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
wurden verteilt, und auch um die Madonna war man nicht verlegen! Im Leipziger Kreis, der sich zwanglos um Gast gruppiert hatte, herrschte Weichheit und Neigung zum Nachgeben vor. ‹Es wäre schön, wenn der Pantheismus wahr wäre!›, reflektierten diese Nietzschejünger; es war ihnen doch unbequem, Nietzsche in alle seine Unerbittlichkeiten hinein folgen zu müssen.» Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, hatte auch seine Verbindlichkeiten, Querelen und Konfrontationen mit dem Nietzsche-Archiv und seiner Leiterin. Er verteidigte Koegel nach einer öffentlichen Attacke und äußerte in einem Literaturmagazin, Frau Förster-Nietzsche sei für die von ihr übernommene Aufgabe inkompetent. Es mangele ihr bezüglich der Lehre ihres Bruders an jedem Verständnis und überhaupt an selbständiger Urteilsfähigkeit, da ihr der Sinn für logische Unterscheidungen abgehe. Offenbar, so impliziert Steiner, sei Elisabeth Förster-Nietzsche sogar in der Lage, an ihre eigenen Lügen zu glauben. Denkt man an «Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn» Friedrich Nietzsches, so findet sich in seiner Schwester die Profan-Variante in der Versinnbildlichung seiner Philosophie. Steiner, der das Nietzsche-Buch von Lou Salomé als ein Zerrbild abfertigte, als psychologisches Wahngebilde, aus christlich-mystisch-theistischen Instinkten heraus geschaffen, da sie den Denker als einen hysterischen Schwächling darstelle, mit seinen beiden voreinander schaudernden Ichs, der eine Philosophie aus seiner Krankhaftigkeit herausdestillierte, die endlich ideell in Mystik und psychisch in Wahnsinn auslaufen musste, hat doch selbst außerordentlich mystifizierende Beiträge zum späten Nietzsche geleistet, besser zum Endzeit-Nietzsche im Finalstadium der Geisteszerrüttung. Er selbst, Steiner, habe in diesem Stadium, schreibt der Anthroposoph dreißig Jahre danach in seiner Autobiographie, Nietzsches Seele erschaut. «Da lag der Umnachtete mit der wunderbar schönen Stirne, Künstler- und Denkerstirne zugleich, auf einem Ruhesofa. Es waren die ersten Nachmittagsstunden.» Und dann schreibt er vom «durchgeistigten Antlitz» Nietzsches und von seiner frei schwebenden Seele, «frei hingegeben geistigen Welten, die sie vor der Umnachtung ersehnt, aber nicht gefunden» etc. Noch in Naumburger Zeiten habe er wie ein Gott Epikurs «auf der Veranda über uns in feierlichem Schauen» mit dem Blick des Brahmanen und der löwenhaft majestätischen Haltung seines Denkerhauptes über ihnen gethront, die sie sich unten im Hause abmühten, seine handschriftlichen Schätze für die Welt übersichtlich zu ordnen. Höchst bedauerlich für Elisabeth, dass sie in der Folge auch diesen glühenden Nietzsche-Jünger für ihre Sache verlor. Da nur Köselitz in der Lage war, Nietzsches Handschrift aus der fast blinden Zeit zu entziffern, setzte sie gehörige Energien daran, wenigstens ihn dauerhaft an sich zu binden. Aber auch er, aufgerieben von den jahrelangen Rechtsstreitigkeiten mit der Basler Gegenfraktion, verließ 1909 das Archiv, und dann starb er jung – zu jung, um ihr schaden zu können.
Man tut Elisabeth Unrecht, wenn man ihr alle Ausartungen in der Nietzsche-Rezeption und auch im Werk selbst anlasten will, und immerhin hat sie mit ihrer Tatkraft dafür gesorgt, dass die Dokumente, Briefe und Nachlassfragmente aus diversen Teilen Europas zusammenkamen, notfalls auch über den Rechtsweg, wie mehrfach geschehen. Dass dieses Werk gefährliche Brandherde hatte, auch ohne Elisabeths tendenziöse Platzierung, ist einfach eine Tatsache, an der man nicht vorbeireden darf. Kurt Flasch (FAZ, 21. Februar 2003) kritisierte in seiner Besprechung der politischen Nietzsche-Studie von Domenico Losurdo: «Nietzsche, il ribelle aristocratico», 2002, dt.: «Nietzsche. Der aristokratische Rebell», 2009 dem Autor zustimmend, die geradezu etablierte «Entschuldigungsrhetorik» , in der es üblich geworden sei, alles Missliebige in Nietzsches Schriften auf die Schwester zurückzuführen, obwohl eine Reihe extremer Aussagen (Lob der Sklaverei als Bedingung jeder Kultur, Kampf gegen das Mitleid, Programm der Menschenzüchtung, Ausrottung der Minderwertigen) schon in den von ihm selbst überwachten Publikationen vor seinem geistigen Zusammenbruch zu finden sei, nicht erst in den Nachlass-Fälschungen der Frau Förster-Nietzsche. «Nietzsche hat Sätze geschrieben» , beginnt Flasch seine Besprechung, «die auch seine Bewunderer ‹entsetzlich› nennen
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