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Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Titel: Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Appel
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bestellt. Am Anfang stehe die Halluzination – nicht von Tönen, sondern von Gebärden. Wagner trenne und gewinne kleine Einheiten, die er belebe, heraustrenne und sichtbar mache. Darin aber, so Nietzsche, erschöpfe sich schon seine Kraft: in der Erfindung des Kleinsten, in der Ausdichtung des Details, einem Reichtum an Farben, Halbschatten, Heimlichkeiten. Wagner ist, so lesen wir, der wohl größte Miniaturist der Musik mit seiner Unendlichkeit von Sinn und Süße auf kleinstem Raum. Seine völlige Unfähigkeit zum organischen Gestalten verkleide er aber gleißnerischerweise in ein Prinzip, das er «dramatischen Stil» nenne.
    Er muss noch einmal zuschlagen, der große Kämpfer gegen den Großen, und er muss ihn jetzt endlich vernichten, den Gegenspieler. Lächerlich, dass es die Welt immer noch nicht begriffen hat, wie ernst seine Gegnerschaft ist. «Ich führe nunmehr seit 10 Jahren Krieg gegen die verderbnis von Bayreuth» , schleudert er einem blauäugigen Redakteur entgegen, der sich nur wundert über den scharfen Ton des Pamphlets und den «Gesinnungswandel» des Autors, der ja gar keiner ist. Wagner ist der Künstler der Décadence. So steht es nun da in der Kampfschrift, gerichtet an einen Toten, der sich nicht wehren kann, und verfasst von einem, der binnen Jahresfrist einen geistigen Tod sterben wird. Dass Wagner der Künstler der Décadence ist, ist soweit noch nicht schlimm, eher sogar eine Auszeichnung, denn er ist immerhin der Künstler, der ultimative und auch der zeittypische, der repräsentative, der mächtigste, so oder so, und er, Nietzsche, sein symbiotisch mit ihm verbandelter Gegenspieler, ist der Denker der Décadence, der die Befindlichkeit tief verinnerlicht hat. Der Unterschied ist aber nach des Kritikers Auffassung der, dass er, Nietzsche, sich die Décadence-Überwindung zur Aufgabe macht, während Wagner, der große Verführer, seine Verderbnis als Fortschritt und als Gesetz, als Erfüllung in Geltung bringt. Die Krankheit selbst, sagt der Denker, kann ein Stimulans des Lebens sein. Wagner aber zelebriere die Krankheit. Dieser Meister hypnotischer Griffe habe in der Musik das Mittel gewählt, müde Nerven zu reizen und die Erschöpften damit der Lebensmüdigkeit noch näher zu bringen. «Ich stelle diesen Gesichtspunkt voran: Wagners Kunst ist krank. Die Probleme, die er auf die Bühne bringt – lauter Hysteriker-Probleme –, das Konvulsivische seines Affekts, seine überreizte Sensibilität, sein Geschmack, der nach immer schärferen Würzen verlangte, seine Instabilität, die er zu Prinzipien verkleidete, nicht am wenigsten die Wahl seiner Helden und Heldinnen, diese als physiologische Typen betrachtet (– eine Kranken-Galerie! –): alles zusammen stellt ein Krankheitsbild dar, das keinen Zweifel läßt. Wagner est une névrose. Nichts ist vielleicht heute besser bekannt, nichts jedenfalls besser studiert als der Proteus-Charakter der Degenereszenz, der hier sich als Kunst und Künstler verpuppt. Unsere Ärzte und Physiologen haben in Wagner ihren interessantesten Fall, zum mindesten einen sehr vollständigen. Gerade, weil nichts moderner ist als diese Gesamterkrankung, diese Spätheit und Überreiztheit der nervösen Maschinerie, ist Wagner der moderne Künstler par excellence, der Cagliostro der Modernität. In seiner Kunst ist auf die verführerischste Art gemischt, was heute alle Welt am nötigsten hat, – die drei großen Stimulantia der Erschöpften, das Brutale, das Künstliche und das Unschuldige (Idiotische).» Gebärde und Wirkung, worauf es dem Meister hypnotischer Griffe hauptsächlich ankomme, sind Ingredienzien der Schauspielerkunst. Und da der Meister eben nicht aus dem Ganzen schaffen konnte, so musste er Stückwerk machen – «Er blieb Rhetor als Musiker.» Solcherlei Abzeichen der großen Müdigkeit und des Willens zum Ende, mündend im großen Erlöserfinale, im Schopenhauer’schen Salto Mortale ins Nichts, bedeuteten eine sträfliche Verderbnis der Jugend. Dass dieser inkarnierte Dionysos seine künstlerische Kraft nicht genutzt hat, um zur selben vitalen Vision zu gelangen wie Friedrich Nietzsche, hat der verehrende Gegenspieler nie überwunden. Er wollte nicht mehr zu seinen Verführten gehören, als er mit ihm brach. Aber die Empfindung des Rauschs – ästhetisch, wie es ihm offenbar nur gegeben war – blieb doch immer an ihn gebunden. Unmittelbar vor seinem großen Zusammenbruch in Turin hat Nietzsche noch intensiv Wagners «Tristan» gehört. Wenn

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