Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
Veranschaulichung einer omnipräsenten und unausweichlichen Leere im Universum, die an die Bilder des «tollen Menschen» erinnert: Haucht uns nicht der leere Raum an? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts? Die beklemmende Welt Kafka’scher Protagonisten, die noch immer im Bannkreis unsichtbarer, bedrohlicher Mächte leben, ist aber mehr durch Verstörung und vitale Erschöpfung gekennzeichnet als durch Freigeistigkeit und dionysische Stärke – eine offenbar überwiegende Tendenz wenigstens in der deutschsprachigen literarischen Nietzsche-Rezeption. Ein gewaltiges post-Nietzsche’sches Experiment ist Robert Musils Roman-Torso «Der Mann ohne Eigenschaften», der im Wien der österreichisch-ungarischen Monarchie in ihrer Endphase vor 1918 lokalisiert ist. Nietzsches Experimentalphilosophie wird in einem Experimentalroman zur Disposition gestellt. Die perspektivistische Betrachtungsweise ist für den Protagonisten nach der Loslösung von tradierten Ordnungssystemen unausweichlich geworden. So erscheint Ulrich die Welt als ein großes Panoptikum und als Versuchsfeld, auf dem die Möglichkeit eine mehr und mehr schemenhaft empfundene Wirklichkeit ersetzt. Der «Mann ohne Eigenschaften» erlebt diesen Zustand aber als bedrohliche Indifferenz. «Es ist eine Welt von Eigenschaften ohne Mann entstanden, von Erlebnissen ohne den, der sie erlebt, und es sieht beinahe aus, als ob im Idealfall der Mensch überhaupt nichts mehr privat erleben werde und die freundliche Schwere der persönlichen Verantwortung sich in ein Formelsystem von möglichen Bedeutungen auflösen solle.» Die Überwindung des Nihilismus scheint so unerreichbar wie die Versöhnung von Ich und Welt, die Rückkehr ins Paradies oder ins «tausendjährige Reich» . Eine Befindlichkeitsschilderung, wie sie der Nietzsche’sche Radikalismus seinen geistigen Erben zur Aufgabe macht.
Nietzsches Unpopularität nach 1945 ist nachvollziehbar aus historischer und rezeptionsgeschichtlicher Sicht. Dass er aber auch in der Literatur kaum mehr vorkam, mag auch damit zusammenhängen, dass dem durch zwei Weltkriege geschundenen 20. Jahrhundert der Sinn für Tragödien und tragische Ästhetisierungen in seiner zweiten Hälfte ein wenig abhandenkam, wenigstens für solche mit so trostlosem Ausgang. Der 1992 erschienene Roman des New Yorker Autors und Psychoanalytikers Irwin D. Yalom «Und Nietzsche weinte» beweist nur, mit welcher Verflachung die Rezeptionen unter anderen Vorzeichen einhergehen können. Nietzsche auf der Couch, wider sein Wissen zwar, da der Wiener Arzt, in dessen Behandlung er sich begibt, die neuartige Heilmethode von Wien indirekt bei ihm anwenden will, um welche Lou Salomé, die im Hintergrund alles einfädelt, bereits weiß, ist ein Erfolgsrezept, denn am Ende kann Nietzsche weinen und sich befreien, und ebenso befreit ist nach dieser kathartischen Interaktion auch sein Therapeut, der sich die eigenen Nöte während der Sitzungen von der Seele sprach. Die Philosophie dieses prominenten Patienten würde sich demnach beinahe erübrigen, was auch durchklingt im Text, mit ironischer Note – leider bezieht sich die Ironie bei Yalom nie auf den Erfolgsanspruch der modernen Psychologie. Der Protagonist dieses Romans ist eigentlich ein recht netter Bursche, und man stellt am Ende befriedigt fest: Mit einer von der Krankenkasse bezahlten Gesprächstherapie wäre es heutzutage mit ihm wohl nie so weit gekommen. Das ist wahrscheinlich ein Protestantismus, wie ihn Nietzsche ein Leben lang erbittert bekämpfte.
Nietzsche starb am 25. August 1900 in Weimar. Das neue Jahrhundert hatte gerade begonnen. Er ist ein Denker des 20. und des 21. Jahrhunderts, ein wirklicher Zukunftsphilosoph; so viel ist sicher zu sagen. Es ist so vieles, was in der Folge erst möglich wurde durch ihn: Wahrheitsrelativismus und Wertedebatten, Wittgensteins «Sprachspiele» und was ihnen folgte, die Existenzphilosophie, die moderne, nach-Freud’sche Psychologie (Ressentimenttheorie, Pluralität des Subjekts), erkenntnistheoretischer Perspektivismus und postmoderne Polymythie. Er hat die «Sinnfrage» erstmals gestellt – in Zeiten waltender Götter und gar eines Einzelgotts wäre eine solche Frage ja überflüssig gewesen. Bis hin zum Selbstverwirklichungscredo der neunzehnhundertachtziger Jahre, dem Mythos-Revival und der Plakatierung des «anything goes» reicht sein Einfluss auf diversen Ebenen der Befindlichkeitsanalyse und Standortbestimmung. Er, der Zarathustra
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