Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
verstärkt unsere Fähigkeit, das Inkommensurable zu ertragen. Es selbst findet seinen Grund nicht in der Übereinstimmung der Experten, sondern in der Paralogie der Erfinder.» Lyotard führt die bahnbrechenden wissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Innovationen des 20. Jahrhunderts (Einstein, Heisenberg, Gödel, Relativitätstheorie, Quantentheorie und Quantenmechanik bis hin zur Chaosforschung) für seine Diagnostik heran, bezieht sich aber genauso auf die Avantgarde-Bewegung der Kunst, Paradebeispiel der Polymorphie, die fortgeführt werden müsse, und zwar auf lange Sicht.
Die ganze französische Linie der postmodernen, posthistorischen oder poststrukturellen Debatte beruft sich auf historische Vorläufer, und diese stellen gleichsam ein Gegenkonzept zur Cartesischen Linie einer Mathesis universalis dar, der ganz großen Einheits-Obsession der Menschheit in der beginnenden Neuzeit: Blaise Pascal etwa, auf den sich Foucault ausdrücklich bezieht, mit seiner Wissenschaftskritik in den «Pensées», der der Vernunftfolgerung die Axiomatik entgegenstellt, die Evidenz, die «Logik des Herzens» und den «Esprit de finesse», und der auf den rein nominellen Charakter von Definitionen verweist. Und hat nicht auch schon Nietzsche geäußert, die deutsche Geistestradition mit ihrer Metaphysik-Manie kranke daran, dass sie kein 17. Jahrhundert gehabt habe wie die Franzosen?
Angesichts des postmodernen Statuts «radikaler Pluralität» kann man wohl feststellen, dass zumindest die Grundlinie stimmt. Sie ist kritischen Geistes, sie tritt Monopolen entgegen, sie verabschiedet sich vom großen Einheitstraum, der doch nur (so Lyotard) repressiv und totalitär eingelöst werden kann. Das fängt bei den Weltbildern an und endet bei den Systemen. Kommen wir, fragt man sich, wirklich vollständig ohne sie aus? Schon Nietzsches radikaler Perspektivismus muss sich die Frage gefallen lassen, wie er, etwa im Rahmen der Rechtsprechung oder politischer Entscheidungsprozesse, realisiert werden soll. Ohne Grundwerte, die für alle verbindlich sind, kommen wir in einer Sozialform kaum aus, und in der Wissenschaft kaum ohne methodologische Paradigmen, so approximativ oder vorläufig sie auch angelegt sein mögen. Allgegenwärtig im (post)modernen Bewusstsein, da auch die praktische Psychologie damit arbeitet, ist die Vorstellung von der Pluralität des Subjekts – «multiples Ich» dürfte die populärere Formulierung sein, die ihren Weg schon bis in die TV-Talkshows und in die Bestsellerlisten gefunden hat. Neben zahllosen anderen ist für Nietzsche ja auch das «Ich» ein moralisches Vorurteil. Die Ersatzreligionen und Fetische unserer Zeit, die sich immer wieder aufdrängende Sinnfrage und anderes zeigen, dass es offensichtlich sehr problematisch ist mit der Freigeistigkeit, mit dem Verzicht auf alle «Hinterwelten», auf Sinn, Transzendenz und ein irgendwie auch begrenzbares, sich abgrenzendes und damit auch in gewisser Hinsicht geschlossenes Ich. Die Erfolgsgeschichte des Individuums in der abendländischen Geistesgeschichte, evoziert in der Neuzeit, in die Krise gekommen in der Moderne, ist und war eigentlich doch immer an diesen Widerpart einer Instanz gebunden, gegen die es sich auflehnen und von der es sich emanzipieren konnte – weltlich, geistlich oder auch beides verknüpft. Ohne Widerpart steht dieses seltsam zerfaserte, in lauter Einzelentitäten gespaltene, teilweise nach gegenläufigen Richtungen strebende «Ich» ziemlich haltlos im Raum und gibt sich mehr oder weniger lustvoll seiner ohnehin nicht vermeidbaren Zerfaserung hin.
Unsere Zeitlichkeit ist und bleibt religiöses und philosophisches Grundinventar. Das Erleben der Endlichkeit, einerseits existentielles Trauma des Menschen, andererseits jeder Ansporn zum Schöpfertum, um die Endlichkeit überwinden zu können und sich selbst zu verewigen, macht uns eigentlich als Menschen aus. Und so steckt in Nietzsches Gedanken der «ewigen Wiederkehr» auch eine Goethe-Reminiszenz in der Verewigung des «höchsten Augenblicks» , so wie er sie verstand, der Olympier, der die entseelte und götterlose Neuzeit nicht annehmen wollte. Nietzsches «Wiederkunft» ist eine geheimnisvolle Verschmelzung von zeitlichem Werden und Ewigkeit (und was ist «Ewigkeit» anderes als Metaphysik?).
Vom großen Augenblick bei Silvaplana, als der Gedanke einer ewigen Wiederkunft ihn überkam, hin zu dieser ewigen Nacht seiner letzten drei Lebensjahre in Weimar führt auch ein
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