Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
aussprechen lässt: Die Götter haben sich zu Tode gelacht, hätte sicherlich seine Probleme angesichts des Phänomens einer Flucht ins profan-Religiöse, wie es seit langem in unserer westlichen Welt zu beobachten ist. Was würde Nietzsche wohl sagen zur durchschnittlichen Sortierung einer Großstadtbuchhandlung, in der der Bereich «Esoterik» etwa zehnmal so groß ist wie die Rubrik «Philosophie»? Würde er noch an sein großes Zukunftsbild glauben – den «Übermenschen», der ganz ohne «Hinterwelten» lebt, durchdrungen vom Hier und Jetzt und von der Schwere der Erde? Oder würde er wieder auf seinen aristokratischen Standpunkt ausweichen, der die Menschheit von jeher und immer in die große Masse der unbelehrbaren Mehrheit und in auserlesene Einzelne teilt? Da er selbst, den Thomas Mann als «überlastete, überbeauftragte Seele» bezeichnet, zum Märtyrer seiner eigenen Ansprüche wurde, scheinen sie mehr ein Verweis zu sein, eine Aufforderung zu einem immer offenen, kritischen Blick. Keine Dogmen. Kein Festhalten. Keine Überbauten. Keine Schematisierungen. Das ist schwierig, wenn nicht unmöglich. Jeanne Hersch (1981) bezeichnet den Übermenschen infolgedessen als einen «vorantreibende[n] Begriff.» «Mitleidloses Überschreiten des Gegebenen, ständiges Ballastabwerfen, um der schöpferischen Freiheit willen, das ist das Thema des Übermenschen, in gewissem Sinne ein prometheisches Thema.» Für Ludwig Klages war Nietzsche der erste Psychologe unter den Denkern, «der kühnste Pionier einer geistfeindlichen Lebenslehre» . Karl Jaspers sah in ihm einen Existenzphilosophen, Heidegger einen Seinsdenker – «de[n] letzte[n] Metaphysiker Europas» . Nietzsche schließe den Ring, so Heidegger, indem er zu den Ursprüngen griechischen Denkens zurückgehe und damit den Platonismus und die Metaphysik zugleich vollende und überwinde. Das ist freilich immer so eine Sache mit «Überwindern» von «Dingen an sich», Metaphysik, Feudalismus, Kapitalismus, Ideologien und dergleichen mehr. Sie überwinden meistens das eine, aber schaffen ein nahezu gleichwertiges Pendant, bestenfalls unter veränderten Vorzeichen. Also: Auch das kennt man schon. Menschen der «Postmoderne» noch geistige oder sonstige Revolutionen zu suggerieren, scheint schwierig.
Nachdem die Kritische Theorie Nietzsche schon deshalb ablehnte, weil gar kein Fortschrittsund sozialer Erneuerungsglaube bei ihm zu finden war, blieben die Postmodernen. Sie schrieben ihn sich auf den Leib, erklärten Nietzsche stellenweise zum Urvater dieser jüngsten Epoche, die durch Jean-François Lyotard 1979 («La Condition Postmoderne») eine breit angelegte Diskussionsbasis fand. Ausgangsthese ist das «Ende der Meta-Erzählungen», die die Werteverfassung und die Institutionen der Moderne bestimmten. Drei große Meta-Erzählungen habe die Neuzeit oder Moderne hervorgebracht, die sich noch in den entlegensten Detailforschungen als alles legitimierende Leitideen zeigten: die Emanzipation der Menschheit (in der Aufklärung), die Teleologie des Geistes (im Idealismus) und die Hermeneutik des Sinns (im Historismus). In der Gegenwart aber, heißt es hier, die nicht zuletzt, dank neuer Massenmedien und Technologien, ein global ausgerichtetes Informationszeitalter ist, sind alle Einheitsbande hinfällig geworden, alle verbindlichen Weltwahrnehmungen und ihre «Mono-Kultur». «Totalität wurde als solche obsolet» (Wolfgang Welsch), «und so kam es zu einer Freisetzung der Teile» . Nach Meinung der Befürworter dieser Befindlichkeit ist die Trauer arbeit über die verlorene Einheit inzwischen abgeschlossen. Das Ende der großen, vereinheitlichend-verbindlichen Meta-Erzählungen einschließlich ihres totalitären Charakters gebe einer Vielzahl heteromorpher Sprachspiele, Handlungsformen und Lebensweisen Raum. «Anything goes»? Nein, sagen die postmodernen Befürworter. Fern von Beliebigkeitsstatuten und Relativismus sei die postmoderne Verfassung dadurch gekennzeichnet, sich der Vielfalt der Sprach-, Denk- und Lebensformen jenseits von Einheitsobsessionen bewusst zu sein und verantwortlich damit umzugehen. Dazu müsse man durchaus nicht im ausgehenden 20. Jahrhundert leben, sondern könne auch Wittgenstein, Kant, Diderot, Pascal oder Aristoteles heißen. Im Gegensatz zur Habermas’schen Konsensforderung plädiert Lyotard für Paralogie. «Das postmoderne Wissen ist nicht allein das Instrument der Mächte. Es verfeinert unsere Sensibilität für die Unterschiede und
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