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Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Titel: Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Appel
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der menschlichen Seelenvorgänge. Kunst und Leben standen dem jungen Nietzsche im Widerspruch zur trockenen Wissenschaft, die kein organisches Eigenleben besaß. Es ist ziemlich erstaunlich, wie dieser hochbegabte Vorzugsstudent, der so mühelos in die Gefilde der philologischen Wissenschaft einstieg, federleicht überflog, kann man fast sagen, für ein Jahrhundertgenie von seinem Lehrer gehalten, in all der Mühelosigkeit seines Aufstiegs heimlich den Advocatus Diaboli spielte. Wie ein Satyr erging er sich Freunden gegenüber, den Studienfreunden Carl von Gersdorff und Erwin Rohde oder dem fernen Paul Deussen, über die senilen Wissenschaften und die greisen Scheusale unter den Professoren, die das Blut junger gesunder Menschen aussaugten. Der Kandidat hatte Vampirphantasien und zeichnete die Philologen als Nekrophile, die sich, um ihrer Lust zu frönen, im Sinne ihrer toten Materie nachts in Gebeinhäuser schlichen, symbolisch gesprochen. Freilich ließ er diese Blasphemien erst ganz am Ende seines Studiums verlauten, als seine Laufbahn als «Wunderkind»-Philologe bedrohlicher Ernst wurde. Da haben die Nestbeschmutzungen geradezu kämpferischen Selbstfindungscharakter. «Es fehlt in der Philologie an grossen Gedanken und daher in dem Studium an hinreichendem Schwung» , notierte er etwas gemäßigter in seinen privaten Aufzeichnungen. «Die Arbeiter sind Fabrikarbeiter geworden. Der Betrieb des Ganzen schwindet ihnen aus den Augen.» Und: «Unsre Philologen sollen lernen, mehr im Grossen zu urtheilen und das Feilschen um einzelne Stellen mit den grossen Erwägungen der Philosophie zu vertauschen. Man muss neue Fragen stellen können, wenn man neue Antworten haben will.» Wenn die Laufbahn ihm auch zeitweise inneren Halt gab und nicht zuletzt durch den Erfolg auch befriedigend war – in den Tiefen des Denkers und Denker-Künstlers, des Menschen Nietzsche kam er nicht an, dieser Halt. Und wurde nicht außerdem noch die großartige Welt der griechisch-römischen Antike durch die ewige Textkritik, den Zweifel an der Überlieferung, die Feilarbeit mit Satzteilen, Sentenzen und winzigen Sprachvarianten in ihrem Gesamtwert gemindert? Er würde dieser Welt ziemlich bald ihre plastische Lebensfülle zurückgeben und mit einem Geniestreich seine Gelehrtenzunft mächtig verstören.

    Der «Philologische Verein» in Leipzig.
Vorne links Friedrich Nietzsche, vorne rechts Erwin Rohde.
    Es ging Nietzsche um die großen Fragen und Antworten, nicht mehr und nicht weniger, und damit um Philosophie, die übergeordnete Instanz aller Wissenschaften, die alle anderen krönte und ihnen erst die Grundlage gab. Schopenhauer hatte ihm einen Zugang zu ihr verschafft, jemand, der noch in seine Jetztzeit hineinreichte und dessen Werk nicht durch einen historisch-textkritischen Editionsapparat verstellt war oder zerpflückt wurde. Aber ist es ein Wunder, dass Nietzsche das Handwerkszeug, das er gelernt hatte, die kritische Methode der Textauslegung, nun auch auf das Buch aller Bücher anwandte? – gar nicht einmal anstoßend, innovativ, sondern lediglich kommentierend, da auch das in der Luft lag in diesem Jahrhundert der kritisch-positivistischen Herangehensweise, dem Jahrhundert der Naturwissenschaften: die Religions- und Bibelkritik. «Das Leben Jesu» von David Friedrich Strauss, 1835/36 erschienen, hatte Nietzsche bereits als Schüler gelesen. Er las es in Leipzig erneut, und er setzte sich nun unter erweiterten Einblicken damit auseinander. «Zum Leben Jesu» notierte er dann: «Voraussetzungslos kann keine historische Kritik in diesem Falle sein. Das Verhältnis Gottes zur Welt muss dem Forscher als feste Ansicht vorliegen. Daraus dann Verwerfung oder Annahme des Wunderbegriffs. Nach der gläubigen Ansicht ist Gott als Lebensgrund und Hüter der Weltgeschichte berechtigt, ja genöthigt, in ihren Gang unmittelbar einzugreifen. Nach dieser Ansicht ist die Welt entgottet, aber unterworfen willkürlichen göttlichen Einwirkungen. Wird nicht Gott dadurch in den Bann der Zeit gethan? Ist ein solches Getrenntsein von Welt und Gott philosophisch zu begründen?» «Das Leben Jesu» von David Strauss hatte sechs Jahre vor Feuerbachs «Wesen des Christentums» und sechsunddreißig Jahre nach Schleiermachers zunächst anonym publizierten «Reden» das Licht der Buchwelt erblickt. Verglichen mit dem Alterswerk ihres Autors war diese überaus wirkungsmächtige kritische Schrift noch recht harmlos. Sie untersuchte die Überlieferungsquellen und

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