Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
aber ausschließlich von seiner Mutter. Die konnte er zwar nicht leiden, und er warf ihr auch Oberflächlichkeit in ihren Lebensverhältnissen vor, aber das führt wieder auf andere Wege. Was die «unbeugsame und rauhe Männlichkeit» angeht, so hatten Schopenhauer und Nietzsche gemeinsam, einen schwer depressiven Vater zu haben, der überaus vorzeitig und überaus ungeklärt starb. Heinrich Floris Schopenhauer stürzte unter dubiosen Umständen in seinem Hamburger Kontor aus einer Speicherluke ins Fleet. Da war Arthur siebzehn, und die Hinterbliebenen gingen von Selbstmord aus, ohne dies jemals offen zu thematisieren. Dass beide Denker später so unfreundliche Dinge über die Frauen äußerten – düsterste Anachronismen zum Teil in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, in der sich schon eine feministische Bewegung formierte – gehört wohl eher zu den «Verschrobenheiten» , die Nietzsche Schopenhauers Mutter attestiert. Beide Philosophen hatten kein Glück in der Liebe. Schopenhauer war ein nörgelnder Misanthrop und Nietzsche verklemmt. Zwischen den Müttern der beiden klafften aber doch mehrere Welten. Johanna Schopenhauer – übrigens auch eine «stolze Republikanerin», wenn das auch wahrscheinlich das einzige war, was sie mit ihrem Gatten verband –, Schriftstellerin und Gesellschaftsdame mit stupender Integrationsfähigkeit, mehrsprachig, weitgereist, mondän beinahe für die Verhältnisse, lebte sicher in anderen Sphären als Fränzchen Nietzsche, das Weihnachten 1861 stolz darauf war, aus einem Ei 1444 Plätzchen gebacken zu haben (die äußerst bissfest gewesen sein dürften). Die depressive Disposition aus dem Vater-Erbe, Problembewusstsein und Sensibilität haben offensichtlich in beiden Fällen, Schopenhauer und Nietzsche, eine frühe Empfänglichkeit für die elementaren Fragen des Lebens ermöglicht, die zu gewaltigen Denkwegen führte. Die Mütter hingegen, wenn auch auf denkbar unterschiedliche Art, standen für Erdung und klaren Wirklichkeitssinn. So virtuos und begabt Johanna Schopenhauer auch war – ihre weitgehend ungebrochene Vitalität konnte und wollte sich nicht auf zersetzende Experimente des Geistes einlassen, die das Leben in Frage stellten oder seine Nachtseiten auf ungesunde Weise betonten; derartige Repräsentanten tragen in ihren erfolgreichen Gesellschaftsromanen immer die Züge von Karikaturen und weltfremden Sonderlingen (und Goethe, der sie sehr schätzte, liebte diesen unbestechlichen Realismus in ihren Werken). Aber ohne ihre ungebrochene Vitalität wäre aus Arthur Schopenhauer, der schon als Siebzehnjähriger feststellte, die Welt sei eher von einem Teufel gemacht als von «Gott», auch nicht der muntere Greis in der Wahlheimat Frankfurt geworden, beinahe gewohnheitsmäßig nörgelnd und grantelnd, der sich’s im «Englischen Hof» zu Mittag gut schmecken ließ, mit dem Pudel spazieren ging, sich in der Fülle seines späten Ruhms sonnte und in seinem Spätwerk zum Besten gab, wie man sich in der schlechtesten aller möglichen Welten bestmöglich einrichtete. Und Nietzsche, sein Schüler? Was wurde aus dem? Sein Werdegang und sein Ende waren weit weniger epikureisch, sondern gewissermaßen tragisch im frühgriechischen Sinn.
Dass Nietzsche sich in Leipzig wieder mit großem Eifer in seine philologischen Studien stürzte, war unter anderem eine Disziplinierungsmaßnahme. Dank seiner hervorragenden Schulpfortaer Ausbildung arbeitete der Student bereits auf so hohem Niveau, dass Ritschl ihn ohne Übergang auf die Ebene der editionskritischen Forschung erhob. Seine Arbeiten über Theognis von Megara, die er in Leipzig fortgesetzt hatte, schlug Ritschl vor, zu einem Buch auszuarbeiten. Nietzsche war nach dieser Unterredung euphorisch gestimmt. Ritschls Anerkennung und die Aussichten, die sich eröffneten, versetzten ihn in einen Erfolgstaumel. Aber diese «Berufung», die sich da abzeichnete, hatte von Anfang an einen faden, wenn nicht gar bitteren Beigeschmack. Ob die Gelehrsamkeit, schrieb er damals an einen Freund, ihm nicht nur eine Maske war? Die Philologie, die Historie, waren etwas Sekundäres, blutarm ihr Gegenstand, und ebenso blutarm waren die ameisenfleißigen Geistesarbeiter, die sich an diesen toten Körpern ergingen. Genuin war dagegen die Dichtung, die literarische Schöpfung, natürlich auch und namentlich die Musik, die er bei Schopenhauer auf so berauschende Weise verklärt sah als unmittelbare Abbildung des Weltwillens in ihren Nachbildungen
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