Friesenkinder
Ergebnissen hatte Thamsen einfach eins und eins zusammengezählt. Ein ausländischer Mann, ermordet und die Leiche mit einem Hakenkreuz beschmiert, demonstrativ auf dem ehemaligen Lagergelände drapiert, vor dem Gedenkstein. Also, wenn der Täter damit nicht ein Zeichen hatte setzen wollen, wusste er auch nicht.
»Na ja«, lenkte Gunter Sönksen nun ein, »auffällig ist das schon. Aber bisher war die Gruppe ja eher friedlich. Ein paar Schmierereien, Drohungen und nächtliche Ruhestörungen durch das Grölen von Naziparolen. Tätliche Übergriffe hat es so gut wie keine gegeben.«
Thamsen wunderte sich, dass sein Mitarbeiter sich derart gut auskannte in den Fällen und ihn ganz offensichtlich von seinem Verdacht abzubringen versuchte. Doch er ließ die Dinge auf sich beruhen.
»Dann geh’ du nun erst mal Mittag machen. Nachher kommen die Kollegen aus Husum zur Besprechung, da will ich dich dabeihaben.«
Gunter Sönksen verließ ohne ein weiteres Wort das Büro und verstärkte damit noch einmal Thamsens seltsames Bauchgefühl. Irgendwie benahm der Mitarbeiter sich komisch. Vielleicht aber hatte er auch nur einen schlechten Tag oder private Probleme? Er nahm sich vor, in der nächsten Besprechung nachzufragen, wenn dieses merkwürdige Verhalten bis dahin anhielt.
Thamsen nahm die erste Akte vom Stapel, lehnte sich in seinem Stuhl ein wenig zurück und schlug den Deckel auf. Die Fotografie eines jungen Mannes mit kahlem Schädel und grob geschnittenem Gesicht sprang ihm förmlich entgegen. Die Miene des Mannes verriet nichts über seine Haltung, aber aus seinen Augen blitzte der blanke Hass. Hass gegen alles, was gegen seine Ideologie sprach. Hass vor allem gegen Ausländer. Was ging in diesem Menschen vor? Wie konnte er ein Individuum wie Hitler, einen Irren, einen Massenmörder, verehren und nach den Prinzipien dieses Mannes leben wollen?
Das Klingeln seines Telefons unterbrach seine Grübeleien.
»Dirk? Hier ist Haie.«
»Gibt es was Neues von Tom und Marlene?« Thamsen ging davon aus, der Freund rief ihn deswegen an.
»Nee, und bei dir?«
Einen Augenblick überlegte er, was Haie damit meinte, dann aber wurde ihm klar, der Freund hatte bereits von der Leiche in Ladelund gehört und meldete sich wahrscheinlich deshalb bei ihm.
»Sag mal, kennst du einen Dr. Merizadi aus Leck?« Schon oft hatte Dirk von den Kenntnissen und Kontakten des Hausmeisters profitiert. Haie lebte seit seiner Geburt in Risum-Lindholm und kannte daher so gut wie jeden in der Umgebung. Aber diesmal musste der Freund ihn enttäuschen.
»Nee, ist das der Tote? Hört sich irgendwie ausländisch an.«
Genau diese Tatsache machte den Fall auch derart heikel. Ein iranischer Arzt tot vor der KZ-Gedenkstelle. Thamsen sah die Schlagzeilen im Nordfriesland Tageblatt bereits vor sich. Und bestimmt würde der Fall auch überregional Interesse wecken. Wieso der Freund das Opfer nicht kannte, wunderte ihn zwar, war aber irgendwie auch verständlich. Immerhin war Dr. Merizadi Gynäkologe, aber vielleicht kannte die Freundin ihn?
»Was ist denn nun mit Marlene?«, wechselte er daher das Thema. Ganz zum Leidwesen des Freundes, der sich eigentlich mehr Informationen von seinem Anruf versprochen hatte. Er wusste ja, Dirk durfte nicht über Details des Falls mit ihm sprechen, aber vielleicht konnte er helfen, auch wenn er den Toten nicht kannte.
»Ich hab’ sie vorhin nicht erreicht, aber ruf sie gleich noch mal an.« Er hatte dieselbe Idee wie Thamsen. »Vielleicht kennt sie diesen Arzt.«
Gut eine Stunde später saß Thamsen im Besprechungszimmer und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte vor ihm. Die Besprechung war für 14:00 Uhr angesetzt. Es war bereits fünf nach und von den Husumer Kollegen noch nichts zu sehen.
»Wenigstens anrufen könnten die«, knurrte er leise vor sich hin.
Die Zusammenarbeit mit der Kripo gestaltete sich von jeher problematisch. Seit er denken konnte, gab es Probleme. Die feinen Beamten glaubten, sie seien etwas Besseres, jedenfalls kam ihr Verhalten bei ihm so an. Stets gaben sie sich besonders wichtig und spielten die Arbeit der anderen herunter. Anders ließ sich zum Beispiel auch die jetzige Situation nicht erklären. ›Wir haben schließlich auch noch andere Dinge zu tun.‹
Endlich öffnete sich die Tür und die beiden Husumer Kommissare betraten breit lächelnd den Raum. Nicht mal eine Entschuldigung war ihnen ihre Verspätung wert, zu sehr waren sie damit beschäftigt, ihren Auftritt zu inszenieren
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