Friesenrache
Gastwirtschaft verlassen hatte. Natürlich war nicht auszuschließen, dass Ole Jessen noch einmal umgekehrt war, nachdem er Manni Thiele abgeliefert hatte, aber ausgerechnet der besaß kein wirkliches Motiv. Er hatte weder Geld noch Landbesitz an den Ermordeten verloren, noch war er jemals den Lästerattacken Kalli Carstensens zum Opfer gefallen. Das jedenfalls hatten die anderen Teilnehmer der wöchentlichen Stammtischrunde ausgesagt. Wieso also sollte Ole Jessen den Landwirt aus dem Herrenkoog umgebracht haben?
Von dem angeblichen weißen Wagen, der mit überhöhter Geschwindigkeit durchs Dorf gerauscht war, fehlte bisher leider auch jede Spur. Die Kollegen aus Flensburg hatten sich noch einmal diesbezüglich im Dorf umgehört, aber niemandem sonst war der verdächtige Kleinwagen aufgefallen. Es kannte auch keiner den Besitzer eines solchen Pkws mit auswärtigem Kennzeichen, der sich zu der Zeit im Dorf aufgehalten haben könnte.
Blieb lediglich der Bruder des Ermordeten, doch dem hatten sie bisher nichts nachweisen können. Ohne Spuren war es ohnehin schwierig, einen Verdacht zu erhärten. Sie konnten ja schlecht jemanden aufgrund eines schlichten Bauchgefühls verhaften. Nur weil Friedhelm Carstensen seiner Ansicht nach das stärks te Motiv besaß, hieß das leider noch lange nicht, dass er es auch gewesen war, der seinen Bruder umgebracht hatte. Vielleicht war der Tod des Bauern doch schlichtweg ein Unfall gewesen? Unfall mit Fahrerflucht?
Thamsen schüttelte heftig den Kopf. Wie konnte er sich nur dazu hinreißen lassen, nach einer solch einfachen Erklärung des Mordes zu greifen. Tief in seinem Inneren spürte er, dass der Tod Kalli Carstensens kein Unfall gewesen war. Er durfte sich von den schleppenden Ermittlungen und Rückschlägen in dem Fall nur nicht entmutigen lassen.
Er blickte auf seine Uhr und stand seufzend auf. Heute war die Beerdigung des Ermordeten. Die Leiche war bereits seit einigen Tagen von der Gerichtsmedizin freigegeben und sollte heute auf dem kleinen Dorffriedhof beigesetzt werden. So jedenfalls hatte es in der Traueranzeige gestanden. Er trat ans Fenster und blickte durch die regennassen Scheiben. Na klasse, dachte er. Genau das richtige Wetter für eine Beerdigung.
*
»Hat Marlene sich gemeldet?«
Haie goss seinem Freund eine Tasse Kaffee ein und stellte sie vor ihm auf den Tisch. Der schüttelte stumm seinen Kopf und griff nach dem Kaffeebecher, auf dem zwei Esel abgebildet waren. Über den Köpfen der beiden Grautiere prangte die provokative Frage ›Wann sehen wir drei uns wieder?‹
Tom umklammerte den Becher mit beiden Händen und nahm einen Schluck des Heißgetränks. Über zwei Tage waren vergangen, seit Marlene mit einer kleinen Reisetasche in ihren roten Polo gestiegen und davongefahren war. Seine entschuldigenden Worte, Liebesbekundungen und reumütigen Zugeständnisse, wie dumm sein Verhalten ihr gegenüber gewesen war, hatten sie nicht aufhalten können. Ohne sich von ihm zu verabschieden, hatte sie ihm den Rücken gekehrt und war abgereist. Seitdem hatte er kein Wort von ihr gehört. Ihr Handy war abgeschaltet, und er wusste nicht einmal, wo sie genau steckte. Ihre Mutter lebte in Hamburg, aber er traute sich nicht, dort anzurufen. Er hatte Angst vor den unangenehmen Fragen, die Gesine Liebig stellen könnte und auf die er keine Antwort wusste.
»Soll ich vielleicht mal bei ihren Eltern anrufen?« Haie konnte den Zustand, an welchem sein Freund seiner Ansicht zwar selbst schuld war, trotzdem kaum ertragen. Es tat ihm weh, Tom so verzweifelt zu sehen, und er konnte sich vorstellen, dass es Marlene nicht besser erging. Vielleicht war es ihm möglich, zwischen den beiden zu vermitteln. Doch der Freund lehnte sein Angebot ab.
»Sie braucht nur etwas Zeit für sich.« Es klang, als wolle er sich mit diesem einsichtigen Argument lediglich selbst beruhigen, und Haie ahnte, dass Tom aus Angst seine Unterstützung ablehnte. Was nämlich, wenn Marlene ihm nicht verzeihen würde, wenn sie beschlossen hatte, nicht zurückzukehren? Solange er nichts von ihr hörte, konnte er immer noch auf einen positiven Ausgang der Krise hoffen.
»Wir sollten uns langsam auf den Weg machen«, wechselte Tom das Thema. Er war froh über die Ablenkung von seinen Problemen, auch wenn eine Beerdigung nicht unbedingt ein geeigneter Anlass war, um auf andere Gedanken zu kommen. Aber er hatte Haie versprochen, ihn zur Trauerfeier zu begleiten. Immerhin war
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