Friesenrache
Fenster. Seinen Gruß erwiderte sie nicht. Er schloss daraus, dass ihr Vortrag am Institut nicht besonders erfolgreich gewesen war, und verkniff sich die Frage danach. Stattdessen begann er einfach, von dem Besuch auf der Polizeidienststelle zu berichten und wie der Kommissar auf die Neuigkeiten von Barne Christiansen reagiert hatte. Doch schon nach wenigen Sätzen war ihm klar, sie hörte ihm gar nicht richtig zu.
»Was ist los?«
Sie löste ihren Blick von dem Punkt außerhalb des Raumes und wandte ihm den Kopf zu. Die geröteten Augen zeugten davon, dass sie geweint hatte. War ihr Referat derart in die Hose gegangen? Er griff nach ihrer Hand. Sie zuckte zurück.
Er wiederholte seine Frage, doch seine Worte verhallten unbeantwortet im Raum. Lediglich der traurige Ausdruck, mit dem sie ihn anblickte, verriet ihm, dass etwas sie stark betroffen machte. War es der Mordfall? Vielleicht spülten die aktuellen Ereignisse wieder die Erinnerungen an die Freundin an die Oberfläche? Auch wenn er hoffte, ihre traurige Stimmung habe etwas mit dem Mord an Heike zu tun; insgeheim spürte er, dass dem nicht so war.
»Du hast mich angelogen, oder?«, fragte sie leise.
Tom schluckte. Er ahnte, was geschehen war, und nickte langsam.
Monika hatte angerufen. Marlene war völlig ahnungslos ans Telefon gegangen und hatte stumm dem Wortschwall gelauscht, der aus dem Hörer auf sie niedergeprasselt war und urplötzlich die letzten vier Jahre ihres Lebens infrage gestellt hatte.
›Hat er Ihnen erzählt, dass er in einer festen Partnerschaft lebte, als Sie ihn kennengelernt haben?‹, hatte Toms Exfreundin ohne Umschweife gefragt und anschließend den damaligen Sachverhalt eindrucksvoll geschildert. Dass er sie betrogen, ohne eine Erklärung von heute auf morgen seine Koffer gepackt und die gemeinsamen Jahre wie ein gebrauchtes Tempotaschentuch weggeworfen hatte.
›Passen Sie bloß auf, eines Tages könnte es Ihnen auch so ergehen‹, hatte sie Marlene abschließend ermahnt und noch einmal explizit auf Toms verlogene Art hingewiesen.
Marlene war nach dem Anruf wie gelähmt gewesen. Natürlich hatte sie bisher nur eine Sichtweise der vorgefallenen Dinge gehört. Vielleicht würde er den Fall ganz anders schildern. Doch das war ihr momentan ziemlich egal. Sie hatte nie geglaubt, es habe vor ihr keine andere Frau in seinem Leben gegeben. So naiv war sie nicht. Aber ihren Fragen war er immer wieder ausgewichen, hatte irgendwelche fadenscheinigen Ausreden erfunden, wenn es zum Beispiel um den Wechsel seiner Telefonnummern ging oder darum, wieso er ihre Hilfe beim Umzug von München nach RisumLindholm nicht benötigte.
Was hatte er gedacht, wie sie reagieren würde, wenn sie erfuhr, dass er sie jahrelang belogen hatte? Sie hasste Lügen. Sie waren keine Basis für eine Beziehung. Wie sollte sie ihm jetzt noch vertrauen? Konnte sie ihm überhaupt jemals wieder vertrauen? Würde er sie vielleicht eines Tages auch so behandeln? Ihre Existenz verschweigen und sich in eine neue Beziehung stürzen? Sie war sich unsicher. Kannte sie den Mann vor sich überhaupt wirklich?
Sie stand auf und blickte auf ihn hinunter. Wie ein Häufchen Elend saß er am Tisch und murmelte unentwegt: »Ich wollte dir ja davon erzählen. Ich …«
Sie wusste nicht warum, aber plötzlich konnte sie seine Nähe nicht mehr ertragen. Der Raum erschien ihr beengt, sie hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen.
»Ich fahre ein paar Tage nach Hamburg. Ich brauche ein wenig Abstand«, unterbrach sie seine Ausflüchte, verließ die Küche und ging ins Schlafzimmer. Dort packte sie einige Sachen in eine kleine Reisetasche.
11
Die nächsten Tage verliefen irgendwie zäh und schleppend. Kommissar Thamsen blätterte wieder und wieder in den Akten, doch der erwartete Geistesblitz blieb aus. Und auch die Ermittlungen der Kollegen aus Flensburg stockten. Barne Christiansen hatte für die Tatzeit ein hieb- und stichfestes Alibi. Er war am späten Nachmittag beim Arzt gewesen. Nierenschmerzen. Die Untersuchungen hatten lange gedauert, sodass es ihm unmöglich gewesen wäre, die letzte Fähre zu erreichen, selbst wenn diese erst verspätet abgelegt hätte. Somit schied der ehemalige Dorfbewohner zunächst einmal aus dem Kreis der Verdächtigen aus.
Die Stammtischbrüder gaben sich selbstverständlich gegenseitig ein Alibi. Kalli Carstensen sei einer der ersten der Gäste gewesen, der nach Angaben des Wirts die
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