Friesenrache
erklang erneut nach einem kurzen Augenblick der Stille laute Orgelmusik, und vier auserwählte Männer erhoben sich, um den schweren Holzsarg an seinen Ecken zu fassen und durch den Mittelgang nach draußen zu tragen.
Die Trauergäste standen ebenfalls auf und formatierten sich zu einer dunklen Menge, die dem Sarg in einigem Abstand folgte. Auch die beiden Damen neben Thamsen richteten sich unter dem Rascheln ihrer Kleider auf und drängten ihn mit in den Mittelgang.
Die beiden Freunde gliederten sich in die Reihe der Trauergäste ein. Tom drehte sich suchend nach Haie um, der einige Meter hinter ihm ging. Er fühlte sich unwohl in der schiebenden Menge und versuchte, sich zurückfallen zu lassen. Doch die ins Freie drängenden Menschen zogen ihn mit sich, bis er schließlich die niedrige Kirchentür passierte und einen Schritt zur Seite treten konnte.
»Mensch«, flüsterte er seinem Freund zu, als dieser endlich neben ihn trat, »was ist das denn für eine kuriose Veranstaltung?« Der zuckte mit den Schultern. »Hast du etwas anderes erwartet?«
Hatte er eigentlich nicht. Er wusste ja, dass der Tote nicht besonders beliebt gewesen war. Das durfte auch dem Pastor nicht entgangen sein. Er stellte es sich nicht einfach vor, eine Trauerrede über einen derart unsympathischen Dorfbewohner zu halten. Zumal dieser nun auch noch Opfer eines Gewaltverbrechens geworden war. Das warf ein schlechtes Licht auf die Gemeinde. Wer wollte schon in einem Ort wohnen, in dem ein Mörder sein Unwesen trieb?
Dass sich jedoch nicht ein einziger Redner gefunden hatte, der ein paar persönliche Worte über den Verstorbenen hatte sagen wollen, fand er höchst seltsam. Nicht einmal der Sohn hatte der Mutter zuliebe seine Trauer über den Verlust des Familienoberhauptes zum Ausdruck gebracht. Auf den Beerdigungen, auf denen er bisher gewesen war, hatte sich meist immer jemand gefunden, der eine freundliche Ansprache über den Dahingeschiedenen hielt. Auch wenn diese nicht immer der Wahrheit entsprochen hatte, worüber man jedoch angesichts des Todes der gewürdigten Person meist großzügig hinwegsah.
Der Regen hatte nachgelassen. Sie folgten in einigem Abstand dem Trauerzug zur Grabstelle. Kommissar Thamsen stand etwas abseits der Menge in einem der kleinen Nebenwege, die sich zwischen den Gräbern entlangzogen. Tom und Haie gesellten sich zu ihm. Schweigend betrachteten sie das Vorgehen an der frisch ausgehobenen Grube. Der Sarg wurde langsam an zwei dicken Seilen in das Loch hinabgelassen und verschwand bald aus ihrem Sichtfeld. Dann trat der Pastor vor und sprach ein weiteres Gebet, ehe er nach einer kleinen Schaufel zu seiner Rechten griff und etwas Sand in die Grube schippte. Das dumpfe Klatschen der Erde auf den Holzdeckel des Sarges drang zu ihnen her über und wieder ergriff Tom dieses mulmige Gefühl. Das Szenario weckte in ihm abermals das Bewusstsein, sterblich zu sein. Keiner wusste, wann seine Zeit gekommen war, es galt, allzeit bereit zu sein. Er dachte an Marlene. Undenkbar, wenn ihm etwas zustoßen sollte und sie im Streit auseinandergegangen waren. Er musste unbedingt mit ihr sprechen. Ihr erklären, warum er damals so gehandelt hatte, dass er sie liebte und immer mit ihr zusammen sein wollte. Er hatte sie nicht verletzen wollen, seine Lügen waren keine böse Absicht gewesen. Er hatte Angst gehabt, dass sie sich von ihm abwenden würde. Sie musste das wissen. Ungeduldig blickte er auf seine Uhr.
»Hast du noch etwas vor?«, fragte Haie flüsternd.
»Ich muss dringend telefonieren«, erklärte er und entfernte sich über den knirschenden Kiesweg.
Marlene hatte sich nach Monikas Anruf tatsächlich zu ihren Eltern nach Hamburg geflüchtet. Seit Heikes Tod gab es eigentlich keine Freundin, der sie sich anvertrauen konnte, und so war sie in ihr Elternhaus zurückgekehrt. Ihre Mutter hatte auf ihre Ausrede, sie wolle in dem Hamburger Stadtarchiv nach Literatur für ihr Projekt suchen, zwar skeptisch dreingeschaut, aber keine weiteren Fragen gestellt. Sie war froh, die Tochter wieder einmal um sich haben, auch wenn diese ganz offensichtlich nicht ihretwegen gekommen war.
Die ersten beiden Tage hatte Marlene nach dem Frühstück das Haus verlassen und war einfach so durch die Gegend gefahren. Sie hatte lange Spaziergänge an der Elbe entlang unternommen, Hagenbecks Tierpark besucht und den Michel bestiegen. Sie brauchte Zeit für sich, musste sich klar darüber werden, was sie wollte.
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