Friesenschnee
durchaus erschwinglich. Er hätte dort angenehmer und viel eher seinen ersten Abschluss erringen können, aber seinen Eltern war das egal.
So musste er sich, gebrandmarkt als Ostuferkind, seine Watschen im kommissmäßigen Gymnasialbetrieb der 1960er-Jahre abholen. Mit Grauen dachte er an seine eigene Schulzeit mit riesigen Klassengrößen und schlecht ausgebildeten Lehrkräften zurück. Doch das war lange her, und inzwischen hatte er ja auch seinen Weg gemacht.
Der Blick auf die Förde entspannte ihn. Vor ihm schaukelten Möwen schwimmend auf den Wellen, und immer wieder schwappte das Wasser gegen die tragenden hölzernen Balken des Seebads. Stuhr verschaffte sich zwischendurch ein wenig Abkühlung, indem er sich aufraffte und die wenigen Stufen der Badetreppe in die erstaunlich warme Kieler Förde hinabstieg.
Nur wenige Schwimmzüge entfernt passierte ihn unter mächtigem Tuten eines der riesigen Traumschiffe, die im Sommer immer öfter die Landeshauptstadt anliefen. Das war ein imposanter Anblick vor der malerischen Kulisse der Kieler Förde. Vom Achterdeck erklang fröhliche Musik, und ab und zu waren sogar die Fetzen von Borddurchsagen zu vernehmen. Stuhr beschloss, wieder festen Boden unter den Füßen zu gewinnen, und schnappte sich einen Stuhl, um das Treiben im Kieler Hafen beobachten zu können. Kleine Boote, Barkassen, Segelschiffe, Schlepper und Fähren, immer gab es etwas zu entdecken.
Deshalb verschlug es ihn selbst im Winter oft ins Seebad. Er las dann gerne ein Buch und sah den Winterschwimmern zu. Das Seebad Düsternbrook ist zwar im Winter geschlossen, aber wie viele andere Badegäste war Stuhr im Besitz eines Jahresschlüssels.
Später am Nachmittag vermieste ein Kräuseln auf der Haut seine schönen Gefühle: Wind kam auf. Mit sorgenvoller Miene beäugte Stuhr das von Südwesten heranziehende Wolkenband, das der Sonne bald den Blick auf diesen wunderbaren Ort entzog. Das schöne Spätsommerwetter schien sich tatsächlich dem Ende entgegenzuneigen.
Stuhr stand kurz entschlossen auf, streifte sein Holstein-Shirt über und verließ den Badesteg über eine kleine Treppe, die direkt zur Seebar führte. Der Barbereich war ziemlich gut besetzt, weil die kühlenden Schatten der Sonnenschirme den betuchteren Gästen Schutz vor der mörderischen Hitze geboten hatten. Schnell quetschte Stuhr sich kurz grüßend auf den letzten freien Barhocker an den Tresen neben einen Cocktail schlürfenden Badegast und bestellte sich eine Selter.
Bis das Mineralwasser serviert wurde, betrachtete Stuhr interessiert die bunten Likörflaschen, die, von Spots erleuchtet und nach Farben sortiert, ein fröhliches Bild von der im Bäderstil gehaltenen Bar abgaben, die ansonsten stringent in weiß, grau und pink designt war.
Von seiner Sitzposition aus konnte er gut den bewaldeten Hang einsehen, auf dem in luftiger Höhe neben dem alles beherrschenden Hotel Maritim mehrere Villen mit Seeblick wie bei einer Perlenkette nebeneinander aufgereiht waren.
Sein Sitznachbar hatte seinen neidvollen Blick wohl registriert, denn unversehens begann er, ihm ein Gespräch aufzuzwingen. »Ist sicherlich nicht schlecht, da oben in der Bismarckallee zu wohnen. Ich besitze dort auch eine Hütte. Aber denken Sie, das macht einen glücklicher? Was nutzt es Ihnen, alleine auf das Wasser zu starren? Soll man sich auf der Terrasse morgens mutterseelenallein schon den ersten Whisky eingießen? Nein, das wahre Leben spielt sich doch hier unten in der Seebar ab.«
Selbstverständlich konnte man sich in der Seebar einen guten Überblick über die vielen Badenixen verschaffen, egal, ob die sich auf dem Badesteg tummelten oder im Barbereich flanierten. Seitdem Stuhr mit Jenny Muschelfang zusammen war, schielte er eigentlich nicht mehr anderen Frauen hinterher.
Sein Sitznachbar unterbrach seine Gedanken. »Gestatten, Hans-Harald Ohmsen. Dienstleistungen und Beteiligungen aller Art, natürlich nur für gehobene Ansprüche. Meine Geschäfte erledige ich in der Regel in Kiel, manchmal auch in Hamburg. Nicht immer nur geschäftlich, Sie verstehen?«
Natürlich verstand Stuhr nicht, aber er nickte. Als sein Sitznachbar jetzt das Glas nach vorne schob, um einen neuen Cocktail zu ordern, konnte Stuhr für kurze Zeit eine kleine Tätowierung auf seinem Handrücken wahrnehmen. Sie sah aus wie ein Zahlenbruch, vielleicht ½ oder ¼.
Das passte überhaupt nicht zu der ansonsten imposanten Erscheinung des gebräunten Mittvierzigers in seiner eleganten
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