Friesenschnee
Sommerkleidung und dem Strohhut.
Nachdem Ohmsen sein neues Getränk erhalten hatte, philosophierte er weiter. »Schauen Sie, das Bootshaus dort drüben an dem langen Steg. Das gehört meinem Nachbarn. Er könnte sich dort ungestört von morgens bis abends sonnen. Doch wo treibt er sich herum? Hier natürlich.«
Ohmsen prostete einem älteren Herrn zu, der sich trotz des eintrübenden Wetters gerade schwimmfertig machte, nicht ohne links und rechts Ausschau nach der Damenwelt zu halten.
Stuhr nickte zwar verständig, aber mit den Gedanken war er bereits wieder bei seiner Jenny. Er hatte sich mittlerweile mit Haut und Haaren auf sie eingelassen. Deutlich hatte er inzwischen zu spüren bekommen, dass er dafür Tribut zollen musste. Denn gerade die gemeinsamen Ausflüge mit ihr ins Kulturleben konnten ausgesprochen anstrengend sein. Der Wert seiner auf diesem Weg gesammelten Erfahrungen lag zudem häufig deutlich unter den überhöhten Eintrittspreisen. Für die Monroe-Ausstellung nach Wedel zu fahren, das hatte sich noch gelohnt, selbst mit dem Umweg über Hamburg, um Jenny abzuholen.
Aber letzte Woche extra nach Emden zu dieser tristen Expressionisten-Ausstellung zu reisen, das kam ihm ein wenig überzogen vor. Nichts gegen Emden, am Hafen gab es vereinzelt durchaus schöne Backsteinsolitäre, die ansonsten eher in Wismar und Stralsund überzeugen konnten.
Doch selbst Emden hatte Stuhrs nun schon viele Wochen währende Beziehung mit Jenny Muschelfang durchgestanden. Hamburg oder Kiel. Das war die Frage, die ihnen die Zukunft stellte. Es war sicherlich die große Weichenstellung, wenn sie mehr als eine Wochenendbeziehung führen wollten. Zu diesem letzten Schritt hatte sich Stuhr bei aller Liebe allerdings noch nicht durchringen können, auch wenn ansonsten vieles zwischen ihnen stimmte. Eigentlich alles, nur die ständige Packerei und Fahrerei knabberten an seinen Nerven.
Wenigstens heute Abend musste er nicht mühsam mit seinem alten Golf in der Innenstadt von Hamburg nach einem der raren Parkplätze suchen, denn Jenny hatte sich den gemeinsamen Gang zum Auftritt der Hamburger Theatergruppe ›MischMasch‹ ausbedungen, die heute im alten Wasserturm eine Sondervorstellung gab: ›Tod im Turm‹.
Der eher banale Titel war es jedoch nicht, der Jenny dorthin zog, sondern die Tatsache, dass sie früher in dem Ensemble aktiv mitgewirkt hatte. Sie war zwar nur als Edelkomparsin aufgetreten, aber sie pflegte nach wie vor enge Kontakte zu ihrer alten Truppe. Glücklicherweise lag der alte Wasserturm auf dem Ravensberg keinen Steinwurf von seiner Haustür entfernt. Mit weicher Stimme wurde Stuhr aus seinen Träumen herausgeholt.
»Nehmen Sie einen Cocktail mit mir? Ich kann Ihnen meinen ›Green Destiny‹ empfehlen. Sehr erfrischend, sind nur gesunde Sachen drin: Apfelsaft, Kiwi, Rohrzucker.«
Den Wodka verschwieg sein Sitznachbar allerdings. Stuhr lehnte dankend ab, er konnte Jenny schlecht mit einer Fahne unter die Augen treten. Er schaute auf die Uhr. Sollte er sich nicht besser auf den Weg nach Hause machen, bevor der aufkommende Regen ihn festnageln würde?
Sein Sitznachbar hatte dankenswerterweise inzwischen Witterung aufgenommen und seinen Blick auf eine Dame mittleren Alters fixiert, die an einem Drink nicht uninteressiert schien.
Stuhr befand, dass es ein guter Moment sein würde, den Platz am Tresen zu räumen, damit dieser Ohmsen seinen Angriff starten konnte. So trank er die Selter hastig aus, legte drei Euro auf den Bartresen und brummelte einige unverbindliche Worte zum Abschied. Dann verließ er entschlossen die Seebar über den Holzsteg zum Hindenburgufer.
Beim Abketten des Fahrrades war sich Stuhr unschlüssig, ob er nicht den Seeblick der Villa in der Bismarckallee dem Treiben im Seebad vorziehen würde. Sicher war er sich nur, dass er sich jetzt auf das Wiedersehen am Abend mit Jenny freute.
Ihre ehemalige Schauspieltruppe? Nun, man müsste einmal sehen.
Unerledigte Geschäfte
Die Nachrichtensendung in ihrem flimmernden kleinen Röhrenfernseher interessierte Kerstin Kramer herzlich wenig. Das Gerät hatte sowieso wegen des Mangels an echter Programmvielfalt lediglich einen Platz auf dem Fußboden erhalten. Zudem telefonierte sie gerade mit ihrer besten Freundin Claudi. Auch wenn Worthülsen wie ›Politikverdrossenheit‹, ›Wirtschaftskrise‹ und ›Machtwechsel‹ in der Glotze gerade noch ihr linkes Ohr streiften, so war sie viel zu sehr in ihr Telefonat vertieft, um die
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