Friesenschnee
eigentlich keine ängstliche Natur war.
Letztes Jahr bei ihrer Großmutter auf dem Land hatte sie es zum ersten Mal richtig mit der Angst bekommen, als sie nach dem Abendbrot mit ihrem Hund noch einen kurzen Spaziergang durch das Dorf unternommen hatte. Die vom kräftigen Wind getriebenen Wolken hatten den Mond verdeckt, und nur selten erhellten Fenster schwach die stockfinstere Szenerie. Ihr kleiner brauner Cockerspaniel hatte sich daran nicht weiter gestört, und an dem Gackern der Hühner oder Muhen der Kühe hatte sie immerhin einigermaßen registrieren können, wo der sich gerade herumtrieb. Sie selbst hatte jedoch immer wieder mit der Hand ins Dunkel nach vorne getastet, um nicht gegen Bäume oder Verkehrsschilder zu stoßen. Was wäre nur geschehen, wenn ihr dort plötzlich jemand begegnet wäre?
Claudi, die aus der Provinz stammte, hatte ihr stets versichert, dass man auf dem Land überhaupt keine Angst haben musste, weil man die wenigen Menschen allesamt kannte, die sich nachts noch auf der Straße herumtrieben. In Kiel dagegen traute sich Claudi nach Einbruch der Dunkelheit alleine nicht mehr auf die Straße, obwohl in der Stadt immer irgendwelche Lichter brannten oder Reklamen flackerten. Typisch Claudia eben.
Mit festem Griff zog Kerstin Kramer den in den Büschen herumschnüffelnden Jock zu sich heran und setzte ihren Weg auf dem Sandweg fort. Sie passierten die Steinstraße, auf deren nassem Straßenpflaster sich die grellgelbe Neonbeleuchtung des Metro-Kinos spiegelte. Nein, in der Stadt mit den vielen Menschen und Lichtern musste man keine Angst haben. Als Stadtkind wusste sie natürlich, dass man besonders als weibliches Wesen in der Dunkelheit stets durch Straßen gehen sollte, die erleuchtet und belebt waren. Das hatte ihr Vater ihr immer schon eingebläut.
Sie wurde von abwechselnden Wogen des Jubels und der Verzweiflung abgelenkt, die aus dem Vereinsheim der Tennisanlage am Ravensberg schallten. Sicherlich lief gerade wie fast an jedem Freitagabend eine Fußballübertragung, und sie wusste aus eigener Anschauung, dass die Hütte dann gerammelt voll war. Es war schon erstaunlich, wie die schwitzenden Fußballfans das Tennisheim in Besitz genommen hatten.
Durch die Einfahrt zum Vereinsheim war jetzt schemenhaft der auf dem Ravensberg stehende, nur spärlich erleuchtete Kieler Wasserturm zu erkennen, ein mächtiger, runder Backsteinbau aus der wilhelminischen Zeit, der mit seinem aufgesetzten Dachreiter an einen Trutzturm aus dem Mittelalter erinnerte. Die fehlende Beleuchtung verwunderte Kerstin, denn ansonsten begrüßte der Turm sie am Freitagabend stets strahlend hell erleuchtet, weil dann Theateraufführungen stattfanden.
Jetzt im Sommer war der Turm von der Straße aus kaum noch auszumachen, weil die Bäume, die ihn umsäumten, im Laufe des letzten Jahrhunderts eine stattliche Höhe erreicht hatten. Es gab jedoch einen kleinen, von Büschen umsäumten Rundweg, der um den Sockel des Turms herumführte und bei Hundebesitzern ausgesprochen beliebt war. Der Zugang zum Rundweg war durch die tief herunterhängenden Zweige für Ortsfremde kaum auszumachen, aber Jock kannte ihn genau und begann, heftig an seiner Leine zu zerren.
Sein Frauchen löste deren Verschluss, und der drahtige Cockerspaniel hüpfte freudig erregt mit wenigen Sätzen die kleine Steintreppe hinauf, um japsend in dem schwarzen Loch im Blätterwald zu verschwinden. Nur zögerlich folgte Kerstin ihrem Hund, denn die wenigen Laternen am Rundweg waren allesamt abgeschaltet. Sie kannte sich jedoch gut aus, und trotz der Finsternis fand sie zielsicher den Weg zu dem kleinen Halter mit den Schietbüdeln, die von den Hundebesitzern zum Einsammeln des Kots ihrer Lieblinge benutzt werden sollten.
Sie zog wie immer mechanisch eine der Tüten, obwohl es wegen der Dunkelheit kaum möglich sein würde, den Kot ihres Hundes zu orten. Im Prinzip war das mit den Plastiktüten eine gute Idee, denn gerade im Winter auf Schnee waren die vielen Kotstellen und Urinflecken entlang des Rundwegs eine unästhetische Angelegenheit. Wenn ihr Hund ein großes Geschäft erledigt hatte, dann griff sie genauso wie die anderen Hundebesitzer zur Plastiktüte. Allerdings fasste sie immer, wenn es die Situation erlaubte, daneben und ließ den stinkenden Hundedreck liegen.
Sie fand es einfach unappetitlich, durch die dünne Plastikfolie den warmen Kot von Jock in ihrer Hand zu spüren, zumal die Müllkörbe weit auseinander standen. Wie sollte
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