Fronttheater
dann keilte sich ein Mann durch die Menschenmauer. Er brüllte, daß seine Befehle sogar durch die dicken Ohrenschützer der Soldaten drangen.
Leutnant Peter Kramer hatte den Hilferuf des Mädchens gehört. Er brauchte fast eine Minute, um die drei Meter bis zu Erika zu überwinden. Dann war er neben ihr.
»Da!« sagte Erika und zeigte auf ihre kauernde Freundin.
Kramer schob zwei Landser zur Seite, hob Irene auf und trug sie zu dem Zug.
Die Soldaten, aufgestört und schuldbewußt, machten, so gut es ging, Platz.
Kramer erkämpfte für sich und die beiden Mädchen eine Ecke in dem Abteilgang, nahe der Tür. Er stellte die Koffer nebeneinander.
»Das sind die komfortabelsten Sitzplätze, die ich zur Zeit anzubieten habe. – Na, schönes Fräulein«, wandte er sich an Irene, »geht's wieder?«
Irene sah den jungen Retter an und nickte.
»Die Luft«, stotterte sie, »plötzlich – alles war weg.«
Erika saß schon. »Komm, Irene, setz dich«, sagte sie zu ihrer Schwägerin.
Aber Irene stand noch immer und sah Leutnant Kramer an, bis der junge Mann sie behutsam zum Sitzen herunterdrückte.
Und so blieben sie Auge in Auge. Irene sah von unten nach oben in das junge Gesicht des Mannes, Kramer sah herunter in das weiche Gesicht des Mädchens.
Endlich fuhr der Zug. Er ruckelte die Menschen zurecht, und nach wenigen Minuten gab es dadurch etwas mehr Platz.
Erika hatte ihren Humor wiedergefunden.
»Ich glaube, Sie setzen sich am besten auch. Herr Leutnant«, sagte sie, »sonst bekommt Irene noch Genickstarre.«
»Irene«, sagte Kramer, langsam den Namen wiederholend. Und ohne den Blick von dem Mädchen zu lassen, setzte er sich neben sie auf die Kante des Koffers.
Er mußte den Arm über ihre Schultern legen, um nicht von seinem schmalen Sitz herunterzufallen.
Der Zug ratterte monoton nach Osten.
Irene und Leutnant Kramer schwiegen. Erika bestritt allein die Unterhaltung. Sie klärte Kramer über ihren Fronttheatereinsatz auf, und sie machte anzügliche Bemerkungen über ihre schweigsamen Gesprächspartner.
Irene und Kramer lächelten – und schwiegen.
Als Kramer sich eine Zigarette anzündete, sagte Irene nur: »Ich auch – bitte.« Kramer steckte sich eine zweite Zigarette in den Mund. Er zündete sie an und schob sie langsam zwischen die Lippen des Mädchens.
»Danke!« murmelte Irene, und heimlich drückte sie ihre Schulter fester in seinen Arm.
Ohne Lichter fuhr der Zug durch die russische Steppe.
Mitternacht war vorüber. Irene saß noch immer neben Kramer auf dem Koffer. Ihr Kopf war an seine Schulter gesunken.
Erika schlief und knurrte nur ab und zu unwillig, wenn sie von ihrem Sitz zu rutschen drohte und dabei halb erwachte.
Plötzlich krachte es ohrenbetäubend. Druckluft zischte aus geplatzten Ventilen. Bremsen kreischten. Waggons sprangen aus den Schienen, neigten sich zur Seite.
Aufschreiend fuhren die beiden Mädchen aus dem Schlaf. Ein harter Stoß warf sie gegen die Wagenwand, als der Zug zum Stehen kam.
»Was ist?« flüsterte Irene Berthold tonlos und klammerte sich verstört an Kramer.
»Die Lokomotive ist in die Luft geflogen.« Er beugte sich aus dem zersplitterten Fenster. Eisig fegte der kalte Nachtsturm herein.
Drei Feldgendarmen liefen den Zug entlang. »Alles aussteigen! Die Gleise müssen freigeräumt werden!«
Leutnant Kramer setzte seine Mütze auf und begann das Gepäck aus dem Zug zu werfen.
Dann half er Irene vom Trittbrett. Der eisige Nordost schnitt in ihre Gesichter.
Kramer organisierte in einer Hütte nahe dem Bahndamm einen Platz für die Mädchen.
»Und du?« fragte Irene – und fand es ganz selbstverständlich, daß sie den Mann duzte, den sie gestern noch nicht einmal gekannt hatte.
»Ich muß mich da draußen kümmern«, antwortete er, »dort braucht man Hilfe.«
Der Ersatzzug aus Smolensk traf erst am nächsten Vormittag ein. Halb erfroren und bis zum Umfallen erschöpft kamen die beiden Mädchen in der Nacht an ihrem Bestimmungsort an.
»Auf Wiedersehen, Irene!« Kramer hielt ihre Hand, als ob er sie nie wieder loslassen wollte.
»Auf Wiedersehen!« Irenes Mundwinkel zuckten. Sie biß sich auf die Unterlippe, um nicht loszuheulen.
»Schreibst du mir – manchmal?« fragte er und gab ihr einen Zettel, auf dem er seine Feldpostnummer notiert hatte.
Sie las. »Jeden Tag – jeden Tag schreibe ich dir«, rief sie dem davonrollenden Zug nach.
»Eine Eisrevue sollten wir machen«, sagt Sonja Deppe zähneklappernd. »Was meinst du, wie wir heute
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