Fronttheater
FRONTTHEATER stand in großen, weißen Buchstaben auf dem feldgrauen, dreckbespritzten Bus, der vor der Ortskommandantur von Alexandrowskij abgestellt war.
Die Mitglieder der Fronttheatertruppe saßen im Dienstzimmer des Ortskommandanten um den bullernden Kanonenofen und tauten ihre erstarrten Füße auf.
»Noch einen Schnaps, meine Damen?« fragte Hauptmann Pachmann, ein rundlicher Herr in den allerbesten Jahren. Dabei wandte er sich ausdrücklich an Lore Sommerfeld, das Küken der Truppe. Er mußte sie unverwandt ansehen. Wie ein Kind sah sie aus, helle Haare, blaue Augen. Es war fast unbegreiflich, daß dieses junge Mädchen mit einer Fronttheatertruppe kreuz und quer durch Rußland fuhr.
»Noch einen Schnaps?« wiederholte Hauptmann Pachmann. Er musterte Lore aus halbgeschlossenen Augen.
Lore schüttelte den Kopf. »Nein, danke.« Ihr kindliches Gesicht verzog sich zu einem verlegenen Lächeln. Der scharfe Wodka hatte sie schon ein wenig benommen gemacht.
Die anderen drei Frauen der Truppe streckten dem Hauptmann die Wassergläser entgegen. Er füllte sie nach und sah unschlüssig zu Lore. In ihrem viel zu weiten Wehrmachtsmantel wirkte sie hilflos und verloren.
»Geben Sie sich keine Mühe«, sagte die üppige Sonja Deppe, die neben Lore saß. »Die Kleine ist noch fast ungeküßt.«
Mit einem etwas verlegen wirkenden Lächeln riß Hauptmann Pachmann seinen Blick von der kleinen Blondine.
»Was werden Sie unseren Soldaten denn Schönes bieten?« wandte er sich an Sonja.
»Den ›Faust‹«, antwortete Sonja Deppe. Dabei ließ sie wie unabsichtlich den Mantel zurückgleiten.
Sie wußte, warum. Ihr roter Pullover reichte zwar bis zum Halse, straffte sich aber eng um ihre enorme Oberweite.
»Donnerwetter«, sagte der Hauptmann ehrfürchtig. Er kippte seinen Wodka. »Den ›Faust‹ also – mit sieben Schauspielern?« fragte er dann zweifelnd.
»Wir sind acht«, verbesserte Walter Meyer. »Fritz Garten, unser Häuptling, ist noch draußen in der Zentrale und telefoniert mit Dabuscha. Das Stück wurde für unsere Besetzung zurechtgestutzt. Sozusagen ein volkstümlicher Frontfaust.«
Hauptmann Pachmann schüttelte entsetzt den Kopf. »Du meine Güte, wer hat denn diese barbarische Schnapsidee ausgebrütet?«
Walter Meyer grinste den Offizier fröhlich an. »Unser erlauchtes Propagandaministerium war so frei«, sagte er, jedes Wort betonend. »Vielleicht sogar der Herr Propagandaminister persönlich.«
Der Hauptmann lief dunkelrot an. »So – so«, stotterte er. »Nun ja. Ist gar keine so abwegige Idee, nicht wahr?« Er wandte sich hastig zur Tür. »Ich will doch mal nach Ihrem Chef sehen.« Er warf noch einen Blick auf Sonja und stapfte aus dem Zimmer.
Spielleiter Fritz Garten hängte gerade den Hörer ein, als der Hauptmann in die Zentrale trat.
Ein schlanker, hochgewachsener Mann, konstatierte der Offizier. Mitte Dreißig. Intelligentes, ausgeprägtes Gesicht mit scharfen Falten von der Nase zum Mund.
»Freut mich«, sagte Garten schlicht, als Hauptmann Pachmann sich vorgestellt hatte. Der leere rechte Ärmel rutschte aus Gartens Manteltasche. Hastig stopfte er ihn wieder zurück.
»Kriegsverletzung?« erkundigte sich der Hauptmann interessiert.
Garten zögerte einen Augenblick. Dann sagte er, scharf jedes Wort betonend: »Man kann es so nennen, wenn man will!«
»Ich hörte gerade. Sie spielen den ›Faust‹«, wechselte Pachmann schnell das Thema. Er ahnte, daß es mit dem fehlenden rechten Arm Gartens eine ganz besondere Bewandtnis hatte. Aber was ging ihn das an? »Eine großartige Idee unseres Propagandaministeriums, nicht wahr?« fuhr er fort.
»Finde ich gar nicht«, antwortete Garten kurz. »Ich habe mir schon die Finger wundgeschrieben, um meinen Spielplan ändern zu dürfen. Unsere Landser haben jahrelang im Dreck gelegen. Sie wollen Musik und Tanz und Mädchenbeine und ein paar kesse Lieder. Keine verstümmelten Klassiker.«
»Mein lieber Herr Garten«, versuchte der Hauptmann zu beschwichtigen. »Ich bin sicher, daß man in Berlin jederzeit ein offenes Ohr … Sagen Sie mal«, unterbrach er sich, »da war doch Post für Ihre Truppe. Hat man die Ihnen nicht ausgehändigt?«
Er wartet Gartens Antwort nicht ab. »Kommen Sie mit zur Schreibstube«, sagte er und verließ mit dem Spielleiter die Zentrale.
Die meiste Post hatte Sonja Deppe. Ihr roter Pullover hatte in der Heimat und an der Front unvergeßliche Eindrücke hinterlassen.
Lore Sommerfeld las einen Brief ihres Vaters.
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