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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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die sie bewältigte, schien unter ihr eine neue dazuzukommen. Ein endloser Abstieg in teerschwarzes Nirgendwo.
    Nicht einmal Hass auf Maxim und die anderen verspürte sie. In ihr war nur Panik. Alles verzehrende Panik und Kälte.
    Und dann kam sie doch unten an. Ihre Fußspitze tastete nach einer Stufenkante, doch die nächste war tief im Schnee versunken. Sie hatte ebenen Boden erreicht, die Oberfläche der Schneemassen, die ganz Petersburg bedeckten.
    Sie sackte ein, aber nicht besonders tief: Sie war zu leicht. Sie stolperte über den Saum des Mantels, schluchzte auf, als sie gegen die Mauer des Hotels fiel und sich dennoch irgendwie auf den Beinen hielt. Wenn sie jetzt stürzte, würde sie liegen bleiben. Die Leere über ihr würde sie niederdrücken, in den Schnee hinein wie der Stiefel eines Riesen.
    Weiter! Geh weiter!
    Sie schob sich mit dem Rücken an der Mauer entlang. Die Wand gab ihr ein wenig Halt und hielt zumindest in einer Richtung die Außenwelt von ihr fern. Dadurch fühlte sie sich nicht ganz so schutzlos.
    Es war eine schreckliche Tortur, sich bis zur nächsten Ecke vorzukämpfen. Die enge Schneise mündete in eine weitere Gasse. Wenn sich die Feuertreppe an der Rückseite des Aurora befand, dann musste das hier die Seitenwand sein. Der Weg daran entlang bis zum Newski Prospekt und dem Haupteingang erschien Maus von hier aus so endlos, als hätte jemand von ihr verlangt, zu Fuß nach Sibirien zu wandern.
    Aussichtslos, flüsterte eine Stimme in ihr. Du schaffst das nicht. Du wirst sterben. Besser, du legst dich gleich hier in den Schnee. Erfrieren tut nicht weh, hatte Kukuschka gesagt; man schläft einfach ein.
    Sie gab nicht auf. Noch nicht.
    Hinter treibenden Schneevorhängen sah sie einen fernen Lichtschimmer: das Ende der Gasse, der Schein der Gaslaternen auf dem Newski Prospekt.
    Der weiche Schnee unter ihren Füßen und der viel zu lange Mantel behinderten sie. Mit dem Rücken an der Wand, beide Hände mit gespreizten Fingern am Stein, schob sie sich seitwärts. Sie hielt jetzt die Augen geschlossen, um die Außenwelt auszusperren. Die Kälte verzehrte sie wie Feuer.
    In der Schwärze hinter ihren Lidern entstand ein Bild wie ein Gemälde, das aus dunklen Ozeantiefen der Oberfläche entgegentrieb. Ein scharfkantiger Umriss. Türme und Zinnen, die wie Messer in einen tobenden Schneehimmel stachen, hoch oben auf einer schroffen Felsenklippe.
    Maus riss die Augen auf. Die Vision verblasste. Aus geträumtem Schnee wurde echter. Der Lichtschein war näher gekommen, aber sie spürte, dass ihr die Schritte immer schwerer fielen. Würde man Maxim und die anderen Jungen bestrafen, falls sie hier draußen erfror? Wohl kaum. Niemand würde ihnen die Schuld geben. Sie war ja nur der Mädchenjunge, leichter zu ersetzen als zerbrochenes Fensterglas.
    Die Schneewehen an der Hauswand ließen ihre Füße tiefer und tiefer einsinken; ihre Zehen spürte sie bereits nicht mehr. Noch ein paar Schritte bis zum Newski Prospekt. Ebenso gut hätte die Hauptstraße am anderen Ende der Welt liegen können. Es war zu spät. Zu kalt. Zu draußen.
    Ihre Sicht verschwamm vollends, als sie mit letzter Kraft an der Ecke des Gebäudes vorbei ins flackernde Gaslicht stolperte. Hier fiel sie hin, rollte im Schnee auf die Seite, sah in einiger Entfernung die Lichter des Haupteingangs, Gold und Messing und die gläserne Drehtür. Viel zu weit.
    Sie war so müde. Und jetzt wurde ihr warm. Das also hatte Kukuschka gemeint. Erfrieren war nicht schrecklich, wenn man erst einmal über das Schlimmste hinweg war. Ganz heiß wurde ihr. Ganz wohlig, ganz entspannt.
    Jemand war bei ihr.
    Unmöglich. Nicht so spät in der Nacht und bei diesen Temperaturen.
    Aber doch, da war jemand. Beugte sich über sie. Strich über ihre Stirn. Und plötzlich war ihr, als ginge die Wärme von der Hand aus, die sie berührte. Viele Farben waren da auf einmal, regenbogenbunt vor ihren Augen.
    »Armes Ding«, flüsterte eine weibliche Stimme.
    Dann schien es, als erstarrte die Frau in ihren Bewegungen, als hätte sie mit einem Mal etwas entdeckt, etwas gewittert.
    »Du riechst nach ihr!«
    Nach wem?, dachte Maus. Aber dann war es ihr auch schon egal, denn nun wurde sie aufgehoben wie ein halb verhungerter Hundewelpe und durch das Licht der Laternen getragen, dem hohen, von Markisen gekrönten Eingang entgegen.
    Bald würde sie wieder drinnen sein. Wieder im Aurora! Der Gedanke gab ihr neue Kraft. »Ich kann selbst … laufen«, krächzte sie.
    »Sicher

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