Frostherz
Schweigend lenkte Johann seinen Wagen in die etwa zehn Minuten entfernte Gartenstraße. Wie ein Mahnmal ragte die äußerlich herrschaftliche Villa hinter den sandsteinfarbenen Mauern empor. Der dunkellila Flieder rankte bis auf den Gehweg und sein Duft drang durch das geöffnete Autofenster. Anne atmete tief ein.
»Gehen wir?«, fragte sie, nachdem ihr Vater den Motor abgestellt hatte.
»Geh du, bitte«, sagte er. »Ich kann das nicht.« Verwundert nahm sie den Hausschlüssel und stieg aus.
Es gruselte sie ein wenig, das Haus alleine zu betreten, um im Kleiderschrank nach passender Garderobe für die Tote zu suchen. Und doch war sie froh, dass Johann ihr diese Aufgabe übertragen hatte. Es roch muffig, ungelüftet. Die zahlreichen Topfpflanzen ließen bereits die Köpfe hängen. Aus dem Kühlschrank entsorgte sie die Lebensmittel, die meisten hatten zu gammeln angefangen.
Im Wohnzimmer, dort wo die Großmutter gefunden worden war, sah es aus wie immer. Nur auf dem alten, ausgeblichenen Perserteppich vor ihrem Lieblingssessel war ein dunkler Fleck zu sehen. Anne sah schnell weg und suchte nach dem, was ihr vertraut war: schwere altrosa Vorhänge neben den blickdichten weißen Stoffgardinen, die gemeinsam viel Licht schluckten. Ein großer schwarzbrauner Schrank voller Bücher und Geschirr, das abgewetzte Sofa, im gleichen hässlichen Gelb wie der Sessel, sandfarbene Tapeten mit verblassenden Blumen darauf. Das Kreuz aus Bronze an der Wand, Heiligenbilder und Landschaften aus dem 18. Jahrhundert auf den Wänden verteilt. Auch wenn das Haus von außen so großbürgerlich wirkte, bemerkte man im Inneren sofort, dass die neuesten Möbel aus den 60er- oder 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts stammten und seit dieser Zeit kaum etwas renoviert oder erneuert worden war. Auf dem Couchtisch stand noch immer das Likörglas, aus dem die Großmutter vermutlich ihren letzten Holunderbeeren-Likör getrunken hatte. Ein winziger Schluck klebte wie angetrocknetes Blut auf dem Glasgrund. Die Großmutter nahm sonst keinen Alkohol zu sich, der allabendliche Likör war für sie mehr ein Schlaftrunk gewesen. Als Anne schon aus dem Zimmer gehen wollte, fiel ihr Blick auf das Klavier, auf dem seit Jahren niemand mehr gespielt hatte. Neben verstaubten Noten, Jugendbildern ihres Vaters und ihren eigenen Kinderfotos stand ein weiteres Glas, ebenso benutzt wie das erste. Verwundert nahm Anne beide mit in die Küche. Niemals hätte die Großmutter gebrauchte Gläser herumstehen lassen. War etwa am Abend vor ihrem Tod noch jemand bei ihr gewesen, der mit ihr getrunken hatte? Kaum vorstellbar. Außer ihrer Freundin Hedi Aumüller hatte Annemarie nie Besuch empfangen. Sie hatte es gehasst, fremde Menschen im Haus zu haben. Sie hatte sich vor Betrügern gefürchtet, die alten Leuten an der Haustür auflauern, um ihnen mit üblen Maschen Geld zu entwenden.
Anne spielte nachdenklich mit dem Glas in der Hand. Sollte sie es einfach abwaschen und in den Schrank stellen? Natürlich! Was sonst! Wahrscheinlich hatte die Großmutter das zweite Glas an irgendeinem früheren Abend selbst benutzt und auf dem Klavier vergessen. Vielleicht hatte irgendetwas sie abgelenkt. Annes Blick fiel auf die hellgrüne, dreieckige Küchenuhr. Seit zehn Minuten fuhrwerkte sie hier schon herum, Johann würde ungeduldig werden. Sie stellte das Glas ungespült zur Seite, holte aus einer Schublade eine Tüte und ging hinauf ins Schlafzimmer.
Auch dort schien alles wie immer zu sein. Nichts, was Annes Argwohn weiter geschürt hätte. Sie öffnete den schwarzen Eichenschrank und stand eine Zeit lang ratlos davor. Was sollte sie nur auswählen? Letztlich hatte ihre Großmutter fast immer das Gleiche getragen: weiße Blusen, wadenlange, eng geschnittene Röcke in Pastellfarben mit dazugehörigen Jacken und eine Perlen- oder Goldkette mit Kreuzanhänger um den Hals.
Sie entschied sich für eine zarte Jacquardbluse in Weiß und einen hellblauen Rock mit Jacke – so hatte schließlich jeder ihre Großmutter gekannt. Musste sie auch Unterwäsche und Schuhe einpacken? Sicherheitshalber tat sie es mit beklommenem Gefühl. Nach einer passenden Kette musste sie etwas suchen, fand dann aber die Goldkette mit dem Kreuz daran in der Nachttischschublade, wo sie unter einem Schlüsselbund mit einem ledernen Etui daran versteckt gewesen war. Sie ließ sich einen Moment neben all die Sachen auf das weiche Bett sinken und begann zögerlich, an der Bluse zu riechen. Nichts als der Geruch von
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