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Frühe Erzählungen 1893-1912

Frühe Erzählungen 1893-1912

Titel: Frühe Erzählungen 1893-1912 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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mit weit ausgestreckten Armen in die Tasten griff. Sie sangen einstimmig, daß sie flotte Vögel seien, die schon die ganze Welt bereist hätten und alle Herzen mit sich nähmen, wenn sie davonflögen. Sie sangen ein äußerst melodiöses Lied, das mit den Worten begann:
    »Ja, ja, das Militär,
    Das lieben wir gar sehr!«
    und auch ganz ähnlich endigte. Aber dann sangen sie auf stürmisches Verlangen noch einmal das Schwalbenlied, und die Herren, die es schon ebenso gut auswendig konnten wie sie, stimmten begeistert ein:
    »Wenn die Schwalben wiederkommen,
    Die wer’n schau’n! Die wer’n schau’n!«
    Der Saal dröhnte von Gesang, von Lachen und dem Klirren und Stampfen der bespornten Füße, die den Takt traten.
    Auch Baronin Anna lachte über all den Unfug und Übermut; sie hatte schon den ganzen Abend so viel gelacht, daß ihr der Kopf und das Herz davon weh tat und sie gern in Frieden und Dunkelheit die Augen geschlossen hätte, wenn Harry hier nicht so eifrig bei der Sache gewesen wäre … »Heute bin ich lustig«, hatte sie vorhin in einem Augenblick, als sie es selber glaubte, zu ihrer Tischnachbarin geäußert; aber dies hatte ihr {389} ein Schweigen und einen spöttischen Blick eingetragen; worauf sie sich besonnen hatte, daß es unter Leuten blamabel war, dergleichen zu sagen. War man lustig, so benahm man sich demgemäß; es festzustellen und auszusprechen war bereits gewagt und wunderlich; aber zu sagen: »Ich bin traurig«, wäre direkt unmöglich gewesen.
    Baronin Anna war in so großer Einsamkeit und Stille aufgewachsen, auf ihres Vaters Gut am Meere, daß sie noch immer allzu sehr geneigt war, solche Wahrheiten außer Acht zu lassen, obgleich sie sich davor fürchtete, die Leute zu befremden und sehnlich wünschte, ganz ebenso zu sein, wie die anderen, damit man sie ein wenig liebte … Sie hatte blasse Hände und aschblondes Haar, das viel zu schwer war im Verhältnis zu ihrem schmalen, zartknochigen Gesichtchen. Zwischen ihren hellen Brauen stand eine senkrechte Falte, die ihrem Lächeln etwas Bedrängtes und Wundes gab …
    Es stand so mit ihr, daß sie ihren Gatten liebte … Niemand soll lachen! Sie liebte ihn sogar noch um der Geschichte mit den Semmeln willen, liebte ihn feig und elend, obgleich er sie betrog und täglich ihr Herz mißhandelte wie ein Knabe, litt Liebe um ihn wie ein Weib, das seine eigene Zartheit und Schwäche verachtet und weiß, daß die Kraft und das starke Glück auf Erden im Rechte sind. Ja, sie gab sich dieser Liebe und ihren Qualen hin, wie sie damals, als er in einem kurzen Anfall von Zärtlichkeit um sie geworben, sich ihm selbst hingegeben hatte: mit dem durstigen Verlangen eines einsamen und verträumten Geschöpfes nach dem Leben, der Leidenschaft und den Stürmen des Gefühls …
    Dreitakt und Gläserklang, – Tumult, Dunst, Summen und Tanzschritt: das war Harrys Welt und sein Reich; und er war das Reich ihrer Träume, weil dort das Glück war, Gewöhnlichkeit, Liebe und Leben und auf ihrer Seite nur Grübelei und Gram und die fühllose Todesstille der Außerordentlichkeit.
    {390} Geselligkeit! Harmlose, festliche Geselligkeit, entnervendes, entwürdigendes, verführerisches Gift voll unfruchtbarer Reize, buhlerische Feindin des Gedankens und des Friedens, du bist etwas Fürchterliches! – Da saß sie Abende und Nächte, gemartert von dem grellen Gegensatz zwischen der vollständigen geistigen Leere und Nichtigkeit rings umher und der dabei herrschenden fieberhaften Erregung infolge des Weins, des Kaffees, der sinnlichen Musik, des Tanzes und der sehnsüchtigen Beziehungen unter den Menschen, saß und sah, wie Harry hübsche und lustige Frauen bezauberte, nicht, weil sie ihn sonderlich beglückten, sondern weil seine Eitelkeit verlangte, daß er sich vor den Leuten mit ihnen zeige, als ein Glücklicher, der wohl versorgt ist, keineswegs ausgeschlossen ist, keine Sehnsucht kennt … Wie weh diese Eitelkeit ihr tat und wie sie sie dennoch liebte! Wie süß es war, zu finden, daß er schön aussah, jung, herrlich und betörend! Wie die Liebe anderer zu ihm ihre eigene zu einem qualvollen Aufflammen brachte! … Und wenn es vorüber war, wenn er am Schluß eines Festes, das sie in Not und Pein um ihn verbracht, sich in unwissenden und egoistischen Lobpreisungen dieser Stunden erging, so kamen jene Augenblicke, wo ihr Haß und ihre Verachtung ihrer Liebe gleichkam, wo sie ihn »Wicht« und »Fant« nannte in ihrem Herzen und ihn durch Schweigen zu

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