Frühe Erzählungen 1893-1912
erwartete mehr von ihm, als dies. Zuweilen, in Augenblicken, wenn eine Unruhe um das, was das »Eigentliche« sein mochte, sich schwach in ihm regte, empfand er, wie dieser Mangel an fremder Erwartung sie wieder lähmte und löste … Die Zeiteinteilung im Hause war unter dem Gesichtspunkte getroffen, daß der Tag schnell und ohne fühlbare Stundenleere verstreichen möge. Stets rückte rasch die nächste Mahlzeit heran. Man dinierte vor sieben; der Abend, die Zeit des Müßigganges mit gutem Gewissen, war lang. Die Tage {444} entschwanden, und so hurtig kamen und gingen die Jahreszeiten. Man verbrachte zwei Sommermonate in dem Schlößchen am See, dem weiten und prangenden Garten mit den Tennis-Plätzen, den kühlen Parkwegen und den Bronzestatuen auf dem geschorenen Rasen, – den dritten am Meere, im Hochgebirg, in Gasthöfen, die den Hausstand daheim an Aufwand zu überbieten suchten … An einigen Wintertagen hatte er sich vor kurzem noch zur Hochschule fahren lassen, um ein zu bequemer Stunde stattfindendes Kolleg über Kunstgeschichte zu hören; er besuchte es nicht mehr, da die Herren, die außer ihm daran teilnahmen, dem Urteil seiner Geruchsnerven nach bei weitem nicht genug badeten …
Statt dessen ging er mit Sieglinde spazieren. Sie war an seiner Seite gewesen seit fernstem Anbeginn, sie hing ihm an, seit beide die ersten Laute gelallt, die ersten Schritte getan, und er hatte keinen Freund, nie einen gehabt, als sie, die mit ihm geboren, sein kostbar geschmücktes, dunkel liebliches Ebenbild, dessen schmale und feuchte Hand er hielt, während die reich behangenen Tage mit leeren Augen an ihnen vorüberglitten. Sie nahmen frische Blumen auf ihre Spaziergänge mit, ein Veilchen-, ein Maiglocken-Sträußchen, daran sie abwechselnd rochen, zuweilen auch beide zugleich. Sie atmeten im Gehen den holden Duft mit wollüstiger und fahrlässiger Hingabe, pflegten sich damit wie egoistische Kranke, berauschten sich wie Hoffnungslose, wiesen mit einer inneren Gebärde die übelriechende Welt von sich weg und liebten einander um ihrer erlesenen Nutzlosigkeit willen. Aber was sie sprachen, war scharf und funkelnd gefügt; es traf die Menschen, die ihnen begegneten, die Dinge, die sie gesehen, gehört, gelesen hatten und die von anderen gemacht waren, von jenen, die dazu da waren, dem Wort, der Bezeichnung, dem witzigen Widerspruch ein Werk auszusetzen …
{445} Dann war von Beckerath gekommen, im Ministerium tätig und von Familie. Er hatte um Sieglind geworben und dabei die wohlwollende Neutralität Herrn Aarenholds, die Fürsprache Frau Aarenholds, die eifernde Unterstützung Kunzens, des Husaren, auf seiner Seite gehabt. Er war geduldig, beflissen und von unendlicher Artigkeit gewesen. Und endlich, nachdem sie ihm oft genug gesagt, daß sie ihn nicht liebe, hatte Sieglind begonnen, ihn prüfend, erwartungsvoll, stumm zu betrachten, mit einem glänzend ernsten Blick, der begrifflos redete, wie der eines Tieres – und hatte Ja gesagt. Und Siegmund selbst, dem sie untertan war, hatte an diesem Ausgang teil, er verachtete sich, aber er war dem nicht entgegen gewesen, weil von Bekkerath im Ministerium tätig und von Familie war … Zuweilen, während er an seiner Toilette arbeitete, bildeten seine zusammengewachsenen Brauen über der Nasenwurzel zwei schwarze Falten …
Er stand auf dem Eisbärfell, das vor dem Bette seine Tatzen ausstreckte und in dem seine Füße verschwanden, und nahm das gefältete Frackhemd, nachdem er sich gänzlich mit einem aromatischen Wasser gewaschen. Sein gelblicher Oberkörper, über den das gestärkte und schimmernde Leinen glitt, war mager wie der eines Knaben und dabei zottig von schwarzem Haar. Er bekleidete sich weiter mit schwarzseidenen Unterhosen, Socken von schwarzer Seide und schwarzen Strumpfbändern mit silbernen Schnallen, legte die gebügelten Beinkleider an, deren schwarzes Tuch seidig schimmerte, befestigte weißseidene Hosenträger über seinen schmalen Schultern und fing an, den Fuß auf einen Schemel gestellt, die Knöpfe seiner Lackstiefel zu schließen. – Es klopfte.
»Darf ich kommen, Gigi?« fragte Sieglinde draußen …
»Ja, komm«, antwortete er.
Sie trat ein, schon fertig. Sie trug ein Kleid aus seegrüner, {446} glänzender Seide, dessen eckiger Halsausschnitt von einer breiten écru-Stickerei umgeben war. Zwei gestickte Pfauen, einander zugewandt, hielten oberhalb des Gürtels in ihren Schnäbeln eine Guirlande. Sieglindens tiefdunkles Haar
Weitere Kostenlose Bücher