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Frühe Erzählungen 1893-1912

Frühe Erzählungen 1893-1912

Titel: Frühe Erzählungen 1893-1912 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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kahl, mit nackten, weißen Wänden, von denen sich drei hellrot lackierte Rohrstühle abhoben wie {199} Erdbeerenvon Schlagsahne. Ein Kleiderschrank, eine Waschkommode nebst Spiegel … Das Bett, ein außerordentlich mächtiges Mahagonimöbel, stand ganz frei in der Mitte des Raumes.
    »Haben Sie etwas dawider?« fragte die alte Dame und fuhr mit ihrer schönen, langen, weißen Hand leicht über das Moosgewächs an ihrer Stirn … Es war, als sagte sie das nur aus Versehen, als könne sie sich eines gewöhnlicheren Ausdruckes für den Augenblick nicht entsinnen. Sie fügte sofort hinzu: »So zu sagen –?«
    »Nein, ich habe nichts dawider«, sagte van der Qualen. »Die Zimmer sind ziemlich witzig eingerichtet. Ich miete sie … Ich möchte, daß irgend jemand meine Sachen vom Bahnhofe holt, hier ist der Schein. Sie werden die Gefälligkeit haben, das Bett, den Nachttisch herrichten zu lassen … mir jetzt sogleich den Hausschlüssel, den Etagenschlüssel einzuhändigen … sowie Sie mir auch ein paar Handtücher verschaffen werden. Ich möchte ein wenig Toilette machen, dann in die Stadt zum Essen gehen und später zurückkehren.«
    Er zog ein vernickeltes Etui aus der Tasche, entnahm ihm Seife und begann, sich an der Waschkommode Gesicht und Hände zu erfrischen. Zwischendurch blickte er durch die stark nach außen gewölbten Fensterscheiben tief hinab über kotige Vorstadtstraßen im Gaslicht, auf Bogenlampen und Villen … Während er seine Hände trocknete ging er hinüber zum Kleiderschrank. Es war ein vierschrötiges, braungebeiztes, ein wenig wackeliges Ding mit einer einfältig verzierten Krönung und stand inmitten der rechten Seitenwand genau in der Nische einer zweiten weißen Thür, die in die Räumlichkeiten führen mußte, zu welchen draußen an der Treppe die Haupt- und Mittelthür den Eingang bildete. Einiges in der Welt ist gut eingerichtet, dachte van der Qualen. Dieser Kleiderschrank paßt in die Thürnische, als wäre er dafür gemacht … Er öff {200} nete … Der Schrank war vollkommen leer, mit mehreren Reihen von Haken an der Decke; aber es zeigte sich, daß dieses solide Möbel gar keine Rückwand besaß, sondern hinten durch einen grauen Stoff, hartes gewöhnliches Rupfenzeug abgeschlossen war, das mit Nägeln oder Reisstiften an den vier Ecken befestigt war. –
    Van der Qualen verschloß den Schrank, nahm seinen Hut, klappte den Kragen seines Paletots wieder empor, löschte die Kerze und brach auf. Während er durch das vordere Zimmer ging, glaubte er, zwischen dem Geräusch seiner Schritte, nebenan, in jenen anderen Räumlichkeiten, einen Klang zu hören, einen leisen, hellen, metallischen Ton … aber es ist ganz unsicher, ob es nicht Täuschung war. Wie wenn ein goldener Ring in ein silbernes Becken fällt, dachte er, während er die Wohnung verschloß, ging die Treppen hinunter, verließ das Haus, und fand den Weg zurück zur Stadt.
    In einer belebten Straße betrat er ein erleuchtetes Restaurant und nahm an einem der vorderen Tische Platz, indem er aller Welt den Rücken zuwandte. Er aß eine Kräutersuppe mit geröstetem Brod, ein Beefsteak mit Ei, Kompot und Wein, ein Stückchen grünen Gorgonzola und die Hälfte einer Birne. Während er bezahlte und sich ankleidete, that er ein paar Züge aus einer russischen Cigarette, zündete dann eine Cigarre an und ging. Er schlenderte ein wenig umher, spürte seinen Heimweg in die Vorstadt auf und legte ihn ohne Eile zurück.
    Das Haus mit den Spiegelscheiben lag völlig dunkel und schweigend da, als van der Qualen sich die Hausthür öffnete und die finsteren Stiegen hinanstieg. Er leuchtete mit einem Zündhölzchen vor sich her und öffnete im dritten Stockwerk die braune Thür zur Linken, die in seine Zimmer führte. Nachdem er Überzieher und Hut auf den Diwan gelegt, entzündete er die Lampe auf dem großen Schreibtisch und fand daselbst {201} seine Reisetasche, sowie die Plaidrolle mit dem Regenschirm. Er rollte die Decke auseinander und zog eine Cognacflasche hervor, worauf er der Ledertasche ein Gläschen entnahm und, während er seine Cigarre zu Ende rauchte, im Armstuhle hier und da einen Schluck that. Angenehm, dachte er, daß es auf der Welt doch immerhin Cognac gibt … Dann ging er ins Schlafzimmer, wo er die Kerze auf dem Nachttische entzündete, löschte drüben die Lampe und begann, sich zu entkleiden. Er legte Stück für Stück seines grauen, unauffälligen und dauerhaften Anzuges auf den roten Stuhl am Bette;

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