0944 - Die Brücke zur Anderswelt
Uchida zügelte sein Pferd und hob gleichzeitig die Hand. Seine Begleiter brachten ihre Tiere ebenfalls zum Stehen.
»Was ist?«, fragte Yuto Abe und lenkte sein Pferd neben das Uchidas.
Der Anführer zog die Oberlippe hoch und ließ kurz seine zwei mächtigen Bluthauer sehen. Dann deutete er auf den noch regennassen Felsen, der gut und gerne die Größe des Kaiserpalastes von Kyoto haben mochte und im stumpfen, grauen Nachmittagslicht dieses verregneten Sommertags, wie ein riesiger Edelstein glänzte. Schroff und steil ragten seine Wände empor. Sie besaßen Falten und Schrunden und irgendetwas, das Uchida irritierte. Im ersten Moment kam er nicht darauf, sah es dann aber, noch bevor er Abe eine Antwort gab. Nicht eine einzige Pflanze wuchs auf dem Felsen!
»Was ist denn nun?«, hakte Abe nach. Geduld hatte schon in seiner menschlichen Existenz nicht zu seinen Stärken gehört, auch wenn er nach dem Kodex der Samurai, dem Bushido , erzogen worden war.
»Der Felsen dort. Er ist… gewachsen.«
»Was meinst du mit gewachsen?«
Uchida drehte den Kopf und starrte Abe nun direkt an. Sein dünner Schnurrbart zitterte. »Ich meine damit, dass er aus dem Boden gewachsen sein muss, denn bis vor Kurzem gab es ihn noch nicht. Hier standen ausschließlich Bäume.«
»Hm.« Abe legte die Hand auf das Langschwert, das er in einem Wehrgehänge an der linken Seite trug. »Du musst es ja wissen.«
Uchida starrte finster zu dem Felsen hinüber. »Ja. Ich weiß es und kein Irrtum ist möglich, denn dies hier war das Land meines früheren Herrn. Spürt ihr es auch, dass dieser Felsen eine magische Ausstrahlung hat?«
Unruhiges Gemurmel ging durch die Reihen der reitenden Vampire. »Ja«, bestätigte Abe schließlich laut. »Wir spüren es alle.«
Uchida nickte entschlossen. »Ich werde hinübergehen und den Felsen untersuchen. Möglicherweise hat ihn der Daimyo (Fürst) Endo zu einem finsteren Zweck, der unserem Herrn schaden könnte, dort wachsen lassen. Denn er ist zwar kein Vampirdämon wie unser Herr Nakamura, aber doch ein sehr mächtiger Zauberer, vor dessen magischer Macht wir uns in acht nehmen müssen.«
»Dann geh«, erwiderte Abe. »Wir werden dich im Auge behalten und sofort eingreifen, falls du in Gefahr geraten solltest.«
Langsam setzte Uchida sein Pferd in Bewegung. Während er sich dem Felsen näherte, setzte er Helm und Gesichtsmaske, die eine furchterregende, kampfeslustige Fratze abbildete, auf. Eigentlich hinderte ihn die Maske am sofortigen Einsatz seiner stärksten Waffe, seiner Bluthauer nämlich, aber das Anlegen all seiner Rüstungsteile, wenn Gefahr drohte, war ihm in seiner früheren Existenz als Samurai so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er sie auch jetzt noch zelebrierte.
Wie kläglich es doch gewesen war, sein früheres Leben! Auch wenn er es lange für ein bevorzugtes gehalten hatte. Jedenfalls so lange, bis das Unglück über ihn gekommen war - wie über so viele andere Samurai auch. Es hatte mit diesem verdammten Erbfolgestreit innerhalb des Herrscherhauses in Kyoto angefangen, mit dem sich die Herrscherfamilie selbst geschwächt hatte. Machthungrige Klans hatten die Situation genutzt und die Herrschaft an sich reißen wollen, was zu einem zehnjährigen Bürgerkrieg geführt hatte, an dessen Ende nicht nur Kyoto zum großen Teil in Trümmern lag, sondern auch die alte Ordnung Japans. Vor elf Jahren war das gewesen. Keine starke Hand regierte seither das Land, denn es war in viele kleine Reiche zerfallen und deren Daimyos stritten seither untereinander um die Macht. Über 200 sollten es sein.
Uchidas Herr Oki hatte sich in diesen Wirren als zu schwach erwiesen und war von dem mächtigen Daimyo Kengo Nakamura getötet worden. Uchida, der bei Oki in gesicherten finanziellen Verhältnissen gelebt hatte, hatte seinem Herrn in den Tod folgen wollen, doch dieser hatte es ihm zuvor nicht schriftlich erlaubt. Gestorben war er trotzdem, wenn auch auf ganz andere Art und Weise. Der Vampirdämon Nakamura hatte Uchida zum Vampir gemacht, allerdings nur zu einem von niederem Stand, denn er konnte sich nicht in eine Fledermaus verwandeln wie Nakamura selbst. Diesen Status musste er sich erst verdienen, so wie seine Begleiter auch.
Dass sein neuer Herr Nakamura mit seinen überragenden Fähigkeiten nicht schon längst das ganze Land unterworfen hatte, lag an weißen Zauberern wie Daisuke Endo. Vor allem dieser Daimyo war es, der Nakamura erbittert bekämpfte und auch die Mittel dazu besaß. Der
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