Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
1
Die Irische See vor der Küste Englands
Juni 1275
Unter dem pechschwarzen Himmel formte sich eine große Woge und schlug mit voller Wucht gegen die Bordwand. Es war nicht der erste Brecher, der den Rumpf erbeben ließ, das Schiff in eine bedrohliche Schräglage brachte und die aufgeweichten Planken mit sprühendem Wasser überzog. Heftig schlingerte die Kogge im tosenden Sturm, während das Ächzen der Spanten und Balken unter Deck von tiefem Donnergrollen überdröhnt wurde.
Randwulf of Greycliff saß abseits der wenigen Mitreisenden an Deck. Er lehnte mit angezogenen Knien an der schützenden Wand des Achterkastells, die Füße fest am Boden, und versuchte, sich gegen das Rollen und Stampfen des Schiffes zu stemmen. Seit der Abreise in Liverpool war das Unwetter schlimmer geworden und schien nicht nachlassen zu wollen. Drei Reisende waren am Morgen an Bord gekommen, als der Kapitän in der Hafenstadt neuen Proviant verladen ließ – zwei Männer und eine junge Frau. Zunächst glaubte Rand, die drei gehörten zusammen, doch das Ehepaar hatte schon bald unter einer von Motten zerfressenen Decke, die sich bereits fünf andere Passagiere teilten, Schutz gesucht. Sie alle zitterten am ganzen Leib, und ihren schreckgeweiteten Augen war anzusehen, dass sie nicht mehr an eine sichere Überfahrt glaubten.
Der andere Mann, der in Liverpool an Bord gekommen war, hatte offenbar ebenso wenig wie Rand die Absicht, sich zu den übrigen Mitreisenden zu gesellen. Einen Arm um die Reling gelegt, hockte er knapp ein Dutzend Schritte von Rand entfernt an Deck. Ohne Kopfbedeckung trotzte er dem heftigen Regen, der das zottelige dunkle Haar und den struppigen Bart des Mannes allerdings längst durchnässt hatte. Nur das Zucken der grellen Blitze beleuchtete die Schicksalsgemeinschaft, die auf dem schwankenden Schiff ausharrte.
»Ihr seht so jämmerlich aus, wie ich mich fühle«, rief der Mann Rand unvermutet zu und gab dazu ein Glucksen von sich. Mit der freien Hand hielt er Rand einen Gegenstand hin, der in dem zuckenden Licht kurz aufblitzte. Ein heftiger Donnerschlag ließ das Schiff erzittern. Rand erahnte die Umrisse einer verzierten Metallflasche. »Starker Würzwein. Trinkt, mein Freund. Das wird Euch wärmen.«
Auch wenn Rand keinen triftigen Grund sah, dem Mann zu misstrauen, ging er doch nicht auf das Angebot ein. Vielleicht war es der Blick des Fremden, der ihm nicht gefiel. Bis auf die Haut durchnässt, zog sich Rand die tropfnasse Kapuze seines Umhangs noch ein wenig tiefer in die Stirn und wappnete sich gegen die heftigen Windstöße.
Seitdem er die Reise vor nunmehr vierzehn Tagen angetreten hatte, war das Wetter für diese Jahreszeit ungewöhnlich schlecht. Sein Reiseziel – Schottland – lag einige Tagesreisen nördlich, doch die Fahrt würde sich noch weiter in die Länge ziehen, wenn sich die See nicht bald beruhigte. Allerdings machten die schweren schwarzen Wolken, die der Sturm über den Himmel jagte, jegliche Hoffnung auf eine Wetterbesserung zunichte.
Tatsächlich kam es ihm so vor, als sei das Meer wilder und aufgewühlter, je weiter er nach Norden kam. Ganz so, als wolle der Allmächtige Rand durch die entfesselte Naturgewalt hindern, seine unheilige Absicht weiterzuverfolgen.
Soll Er mir ruhig zürnen, dachte Rand mit grimmigem Blick, als der Sturm erneut die Kogge erfasste, die unter Ächzen an Backbord schwere Schlagseite erhielt. Die Frauen an Deck schrien auf, als der Bug sich neigte und noch mehr Wasser an Bord spülte.
Rand harrte im Schutz des Achterkastells aus und ließ sich von der wild wogenden See nicht einschüchtern. Der kalte Regen, den der böige Wind über das Deck trieb, brannte wie lauter kleine Nadelstiche in seinem Gesicht. Sollte doch das Meer anschwellen und der Sturm an seinem Umhang reißen – nicht einmal der Zorn Gottes würde ihn, Randwulf of Greycliff, von seinem Vorhaben abbringen.
Denn er sann auf Rache.
Es war sein einziges Ziel, und all sein Hass richtete sich gegen einen ganz bestimmten Menschen – falls dieser Schurke überhaupt ein Mensch war. Rand bezweifelte es. Silas de Mortaine mochte zwar aus Fleisch und Blut bestehen, und doch konnte in diesem Mann, der das Böse schlechthin verkörperte, nichts Menschliches mehr sein, schließlich befehligte er eine kleine, ihm treu ergebene Schar von Gestaltwandlern, die einer anderen Welt entstammten. Durch einen bösen Zauber an ihn gebunden, halfen ihm diese Geschöpfe bei seinem Streben nach Reichtum und
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