Für alle Fragen offen
Kaiserreichs seine Ideale verändern konnte, zeigt der Roman, dem er seinen Weltruhm verdankt: Der Streit um den Sergeanten Grischa (1927). Wie ist es um das Ethos eines Staates bestellt, fragt Zweig, in dem im Namen der Justiz Unrecht geschehen kann – und mag es sich nur um einen einzigen russischen Kriegsgefangenen handeln?
1933 war Zweig nach Palästina gegangen und erlebte dort nach dem Zusammenbruch der Weimarer Republik gleich die nächste Enttäuschung: Zu weit schien ihm das jüdische Provisorium von dem Staat entfernt, den er erhofft hatte und der wohl eine Art Preußen zwischen Mittelmeer und Jordan sein sollte.
Noch während des Krieges veröffentlichte Zweig den 1937 in Hamburg spielenden
Roman Das Beil von Wandsbek , in dem er die deutschen Verhältnisse nicht nur anklagend, sondern auch verständnisvoll darstellt. Der hier im Mittelpunkt stehende arme Fleischermeister ist Henker und Opfer zugleich. Im Exil entstanden auch zwei hochbeachtliche, zum Grischa -Zyklus gehörende Romane, Erziehung vor Verdun und Einsetzung eines Königs .
1948 verließ Zweig den soeben gegründeten Staat Israel und ließ sich in Ost-Berlin nieder. Die damals in der DDR verbreitete Version, seine Übersiedlung sei die logische Konsequenz seiner politischen Überzeugung, war nichts anderes als eine zu Propagandazwecken präparierte Legende.
Zweig, krank und fast erblindet, war müde und der Außenseiterposition überdrüssig geworden. Um zur Repräsentanz, die er immer schon ersehnt hatte, aufrücken zu können, ließ er sich in der DDR einreden, dass er dort eine Heimat gefunden habe und dass hier die Grundlagen eines gerechten Staates geschaffen würden. Er wurde mit Orden, Titeln und Ehrenämtern überhäuft. Aber natürlich konnte es ihm nicht verborgen bleiben, dass auch der Kommunismus nicht jenes Gelobte Land war, das er unentwegt gepriesen hatte.
Mascha Kaléko wäre 2007 hundert Jahre alt geworden. Was ist das Besondere an ihren Gedichten?
Mascha Kaléko wurde 1907 in Polen geboren, in der Nähe einer Stadt, von der, bevor sie berühmt wurde, in Deutschland kaum j emand gehört hatte: Auschwitz. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, floh sie mit ihren Eltern nach Deutschland. Ihr Leben wurde von der Heimatlosigkeit geprägt. Sie blieb überall eine Fremde: In Deutschland eine polnische Jüdin, in Israel eine deutsche Jüdin, in Amerika eine unbelehrbare Europäerin. Und in Polen? Dort kennt man nicht einmal ihren Namen.
Ihre Gedichte machen es den Kritikern schwer und den Lesern immer leicht. Denn sie dichtete ihr Leben, und sie lebte ihre Dichtung. In ihren Versen fällt ein leiser Widerspruch auf, der ihnen einen besonderen Reiz verleiht. Ihre Heiterkeit ist munter, aber elegisch, ihre Schwermut ganz leicht, aber scherzhaft. Wie denn, scherzhafte Melancholie? Ja, denn sie sieht die Welt mit einer lachenden Träne im Auge (die Formulierung stammt von Heinrich Heine).
Ihre frühesten Gedichte erscheinen Ende der zwanziger Jahre in den Berliner Zeitungen – und zwar gleich in den führenden. Sie hat sofort viele Leser und einige etwas ratlose Kritiker. Sie wissen nicht recht, wie man die Anfängerin einordnen soll. Zum Vergleich werden verschiedene Namen genannt: Morgenstern und Ringelnatz, vor allem aber Tucholsky und Kästner.
Die Ursache des verblüffenden Erfolgs dieser Lyrik ist ihre authentische Naivität. Die Kaléko schreibt, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Das ergab rasch und ohne Umstände eine neuartige Großstadtlyrik. Sie fixierte Berliner Lebensgefühl, gewürzt und veranschaulicht mit Beobachtungen des Alltags.
Ihre Gedichte sind Identifikationsangebote aus weiblicher Sicht. Dass sie so klar und einfach sind, das bewirkte ihre enorme Beliebtheit. Von der Kaléko konnten die Leser erfahren, wie es auf der anderen Seite, am anderen Ufer aussieht. Diese Gedichte wurden sofort vom Berliner Kabarett aufgegriffen, auch von den berühmtesten Diseusen. Alle literarischen Formen waren der Kaléko recht: Songs und Chansons, Balladen und Moritaten, Couplets und Parodien.
Die junge Kaléko wurde die einzige Frau unter den Autoren der Neuen Sachlichkeit. Ich bin gar nicht sicher, ob sie diesen vagen, wenig populären Begriff kannte. Aber was sie für die alltägliche Wirklichkeit hielt, sagte sie wiederholt in ihren Gedichten: »Zur Heimat erkor ich mir die Liebe.«
1938 emigrierte sie nach Amerika. Sie lebte dann in Israel, vorübergehend in Deutschland und schließlich in Zürich. 1975 starb die
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