Für alle Fragen offen
aller Lösungen deutlich. Beide wollten sie – in dieser Hinsicht waren sie sich immer einig – ihr Publikum um beinahe jeden Preis amüsieren.
Brecht garnierte seine Stücke mit frommen Sprüchen, Dürrenmatt mit bitteren Sarkasmen und beide oft mit nicht gerade anspruchsvollen Gags. Brecht kam mit dem Gesangbuch daher, mit dem revolutionären, versteht sich; er trug es stets griffbereit in der Tasche. In Dürrenmatts Tasche war Platz vor allem für Sprengstoff. Brecht wollte heilen, Dürrenmatt wollte verletzen.
Brecht verkündete Ideen. Und Dürrenmatt? Sein Angebot war verschwenderisch, alles konnte man bei ihm finden: Motive und Modelle, Gestalten und Geschichten, Hohn und Hass, Ulk und Unsinn, Witz und Weisheit – nur keine Ideen. Seine Stücke befassen sich nicht mit dem Glauben, aber immerhin
behandeln sie – und das mag mit dem verborgenen religiösen Ursprung zusammenhängen – das »Nichtglaubenkönnen«. Und beide haben unterhaltsame, verfremdende und herausfordernde Gegenentwürfe geliefert, die als Antworten auf unsere Welt unmissverständlich sind.
Aber trotz des Altersunterschieds von nicht mehr als dreiundzwanzig Jahren sind es Dichter überhaupt nicht miteinander vergleichbarer Epochen. Brechts Werk ist ohne die Literatur, das Theater, das geistige Klima der Weimarer Republik schlechthin undenkbar. Und Dürrenmatts Werk ist, obwohl nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden und mit der Dichtung der zwanziger Jahre an sich weder verwandt noch verschwägert, unvorstellbar ohne Bertolt Brecht.
Während jedoch Brechts Stücke – ebenso die aus der Weimarer Republik wie jene, die er im Exil geschrieben hat – schon in den fünfziger oder sechziger Jahren nicht mehr unmittelbar unsere Verhältnisse betrafen und also historisch gesehen werden konnten und mussten, was die Rezeption natürlich erleichtert hat, zielten die Hauptwerke Dürrenmatts mitten auf unsere Existenz.
Brecht profitierte davon, dass man in Deutschland gern jenen folgt, die eine Fahne tragen und tröstend auf eine utopische Zukunft verweisen. Dürrenmatt hingegen, der mit keiner Fahne dienen konnte und in dessen Hand sich auch kein Kreuz entdecken ließ, er, der von vornherein erklärte, dass jede Utopie sich als eine Fata Morgana erweisen müsse, lag quer und saß zwischen allen Stühlen.
Nichts gegen Brecht: Er war – das ist wahrlich eine Banalität – ein Jahrhundertgenie. Wir haben allen Anlass, uns vor ihm tief zu verneigen, wie vor Franz Kafka oder Thomas Mann. Doch erlauben wir uns leise zu sagen, dass eine Antwort auf die Welt nach 1945 in seinen Schriften nicht mehr zu finden ist, eher schon in den Hauptwerken des Nachgeborenen, also Friedrich Dürrenmatts.
Wie groß war der Einfluss der Gruppe 47 auf die Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur? Warum wird Hans Werner Richter heute nicht mehr gelesen? Ich glaube, dass der Einfluss der Gruppe 47 auf die Literatur überhaupt nicht vorhanden oder gering war.
Das ambulante »Romanische Café«, das sich Gruppe 47 nannte und zwanzig Jahre lang existierte und auch etwas länger (von 1947 bis 1967 beziehungsweise 1977), wurde von einem der Mitbegründer, Hans Werner Richter, geleitet. Alle Autoren, die sich zwei- oder später einmal jährlich trafen und sich gegenseitig ihre Manuskripte vorlasen, folgten seinen Weisungen.
Worauf beruhte seine Autorität? Er stammte aus Pommern, er war der Sohn einfacher Leute, die sich um seine Erziehung offensichtlich kaum gekümmert hatten. Seine Bildung, auch die literarische, war und blieb dürftig. Er hat sich nie als Künstler verstanden, die Politik interessierte ihn mehr als die Literatur, er war eher ein Journalist als ein Schriftsteller. Seine Romane, heute längst vergessen, sind allesamt schwach.Von moderner Literatur hatte er keine
Ahnung. Aber er war klug genug, sich gute Ratgeber zu holen und ihren Empfehlungen und Warnungen beinahe immer zu folgen. Zur Gruppe 47 kamen die besten jüngeren Schriftsteller, die geistreichsten Kritiker.
Gerade weil Richter keine Ambitionen als Künstler hatte, weil er als Romancier immer erfolglos blieb, hatte er Zeit und Lust, diese Gruppe 47 zu organisieren, zu lenken und lange Jahre am Leben zu halten. Seine Bedeutung in der Öffentlichkeit verdankte er also nicht seinen Büchern und seinen immer seltener werdenden Zeitungsartikeln, sondern ausschließlich der Existenz der Gruppe 47.
Mit Richters Mentalität hatte es auch zu tun, dass es eine Literatur der Gruppe 47 nicht gibt und
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