Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Für alle Fragen offen

Titel: Für alle Fragen offen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
Vom Netzwerk:
Art sind die Briefe Kafkas, die sich ähnlich wie die Korrespondenz Thomas Manns als Zeitdokumente des höchsten Ranges erweisen und zugleich eine Fülle persönlicher Bekenntnisse enthalten. Aber Kafkas Briefe sind nicht für die Nachwelt bestimmt, sondern für die Familie (zumal für die Schwester Ottla), für Freunde (etwa Max Brod) und Freundinnen (für Felice, für Milena und andere). Für Kafka gilt ebenso wie für Thomas Mann: Seine Briefe gehören zu dem kaum zu überschätzenden Teil seines literarischen Werks.
    Ein hervorragender, wenn auch ganz anderer Briefschreiber war Theodor Fontane. Seine zahllosen Briefe, bis jetzt bei Weitem nicht alle
gedruckt, sind originell und amüsant. Es sind in den meisten Fällen schriftliche Plaudereien, bisweilen zehn oder noch mehr Stück, an einem einzigen Tag leicht und flott geschrieben. Sie enthalten immer wieder muntere Mitteilungen und oft aufschlussreiche, unterhaltsame und belehrende Berichte. Kurz und gut: Würde irgendjemand auf die wahnsinnige Idee kommen, die posthume Veröffentlichung von Schriftstellerbriefen generell zu verhindern – aber ich glaube nicht, dass auch nur ein einziger Leser dies ernsthaft wünscht -, wäre dies eine unvorstellbare Barbarei.

    Wird der Literaturkritiker im Alter eher milde oder eher zornig?
    Das ist eine klare und einfache Frage. Dennoch fällt es mir schwer, sie zu beantworten. Denn eine Regel gibt es hier, glücklicherweise, nicht. So ist es denn eine ganz und gar individuelle Angelegenheit. Freilich trifft es zu, dass Frauen ebenso wie Männer oft im Alter ungeduldiger und nachlässiger werden. Das merkt man leider, wenn es um Schriftsteller oder Journalisten geht, nicht selten auch an ihrem Stil. Es hat schon seinen Grund, dass Redakteure ungern an den Manuskripten der Siebzig- und Achtzigjährigen arbeiten. Letztlich kann sich jeder, auch der Kritiker, im Alter so verhalten, wie es ihm passt. Das mag eine enttäuschende Antwort sein, ich weiß es. Aber bisweilen sollte man den Mut zu ebensolchen Antworten haben.

    Sie haben sich einstmals mit großer Geste und »nicht ohne Wehmut« von Heinrich Mann und dessen Werk verabschiedet. Doch einige seiner Werke wie Der Untertan und Henri Quatre sind bis heute populär. Haben Sie sich damals getäuscht?
    Nein, ich glaube nicht, dass ich mich damals – es war 1987 – getäuscht habe. Aber Sie zitieren mich ungenau, also: Zwei Romane von Heinrich Mann (ich nannte damals den Untertan und Professor Unrat ) hätten mich in meiner Jugend »amüsiert und nachhaltig beeindruckt«. Das ist wohl eindeutig genug.
    Ich schrieb ferner: »Diese Wut steckte an, dieser Zorn ließ nicht nach.Wer solche Bücher geschrieben hat, der muss, dachte ich, ein ganzer Kerl sein. Heute, nach einem halben Jahrhundert, ist das Feuer erloschen: Unter der Asche freilich glüht es noch hier und da. So lese ich jetzt beide Romane nur als wichtige und ehrenwerte Dokumente im Archiv der deutschen Literaturgeschichte unseres Jahrhunderts.«
    Wichtige und ehrenwerte – haben Sie das übersehen? »Es wird wohl Zeit, sich von
Heinrich Mann zu verabschieden – mit Respekt, versteht sich, und auch mit Dank.«
    Die Behauptung, dass der Untertan und Henri Quatre bis heute populär seien, trifft nicht zu. Außerdem würde dies nichts beweisen. Es gibt allerlei populäre Bücher, deren literarische Qualität fragwürdig ist – von Karl May bis Hedwig Courths-Mahler.

    Hat je ein Schriftsteller bessere Novellen geschrieben als Guy de Maupassant?
    Es stimmt schon, dass Guy de Maupassant ein ganz vorzüglicher Novellist ist. Aber es gibt auch andere Novellisten von hohem und höchstem Rang – beispielsweise den Russen Anton Tschechow. Diese Fragestellung (wer war der allerbeste Romancier oder Dramatiker oder eben Novellist?) ergibt nicht viel, unter anderem, weil oft Autoren aus verschiedenen Epochen oder Sprachwelten miteinander verglichen werden. Das ist immer heikel und nur in Ausnahmefällen aufschlussreich. Wer war der größere Dramatiker: Sophokles oder Shakespeare, Ovid oder Rilke?

    Nach der Offenlegung der Vergangenheit von Günter Grass als SS-Mann sehe ich Grass als verlogenen Egoisten. Sind Sie auch der Meinung, dass das Werk von Grass – immerhin zuweilen Abiturstoff – wegen Unglaubwürdigkeit neu interpretiert werden muss oder sogar vom Lehrplan gestrichen werden sollte?
    Das gilt auch für Heinrich von Kleist, Rainer Maria Rilke und Thomas Mann, und vielleicht auch für William Shakespeare. Dass das

Weitere Kostenlose Bücher