Fuer immer zwischen Schatten und Licht
Stimme durch die Finsternis:
„Wie oft habe ich dich und Raziel davon zu überzeugen versucht, dass ein irdisches Dasein euch nichts zu bieten hat? Aber ihr wart ja beide vernarrt in die Vorstellung, durch die Sterblichkeit so viel mehr empfinden zu können. Jetzt kommst du in den Genuss einer durch und durch menschlichen Erfahrung: Todesangst. Wie fühlt sich das an?“
Die Antwort war kaum mehr als ein Murmeln. „Es schafft Klarheit. Jetzt begreife ich endlich, wie unglaublich blind wir alle gewesen sind.“
Einen Moment lang herrschte Schweigen, und ich wusste, dass Serafina es ebenfalls bemerkt hatte: In Sams Stimme hatte keine Verzweiflung gelegen, keine Angst oder Resignation. Ich blinzelte, um den Schleier vor meinen Augen zu vertreiben, und richtete mich mühsam auf. Schon nach wenigen Zentimetern begann es in meinem Kopf zu pochen, aber ich schaffte es trotzdem, mich hochzustemmen. Verschwommen sah ich, dass Serafina Sam nun auf dem Boden festnagelte, ein Knie auf seine Brust gedrückt.
„Du meinst, ihr hättet eine Chance gehabt, wenn ihr mich früher durchschaut hättet?“, fragte sie irritiert. „Hast du es wirklich immer noch nicht verstanden? Ich bin dazu auserwählt, Schatten und Licht zu beherrschen! Weder Dämonen- noch Engelsblut kann mir etwas anhaben. Was willst du schon gegen mich ausrichten? Du bist nichts als Erdenstaub, du bist ein gewöhnlicher Mensch!“ Sie spuckte ihm das Wort voller Abscheu entgegen und verlagerte ihr Gewicht nun ganz auf seinen Brustkorb.
Mit einem kratzenden Geräusch holte Sam Luft. „Nein, das bin ich nicht“, keuchte er, „jedenfalls nicht nur. Meine Wurzeln habe ich sowohl im Himmel als auch in der Hölle. Man muss keine Tore öffnen können, um ein Weltenwandler zu sein. Man muss nur durch sie hindurchgehen.“
Herausfordernd beugte sich Serafina noch weiter über ihn. „Was willst du damit sagen?“
„Wir beide, Fina, sind nicht so verschieden, wie du glaubst.“ Sams Hand glitt an seinem Oberschenkel hinab und schloss sich um den Griff des Messers. „In meinen Adern fließen Licht und Dunkelheit genau wie in deinen. In diesem einen Punkt sind wir … gleich!“
Der Satz endete in einem Schrei, als Sam das Messer aus seiner Wunde riss. Begleitet von einem Schweif aus Blutstropfen sauste die Klinge hoch – so schnell, dass ich ihr kaum mit meinem Blick folgen konnte – und bohrte sich bis zum Heft in Serafinas Rücken.
Zuerst starrte sie nur weiter geradeaus. Ich hatte noch nie einen solchen Ausdruck in ihren Augen gesehen; die kalte Überlegenheit war verschwunden, und in ihrem Staunen wirkte sie beinahe menschlich. Dann aber tastete sie mit einer Hand nach der Wunde, und auf einmal ging eine Veränderung in ihrem Gesicht vor: Es schien, als würde das Fleisch einfach wegschmelzen, die Haut wich zurück und verzog sich in die Höhlen unter ihren Wangenknochen. Als Nächstes sank ihr Kopf zwischen die spitzen Schultern, und die Wirbelsäule krümmte sich. Ich wollte mich abwenden, aber völlig erstarrt musste ich mit ansehen, wie Serafina über Sam in sich zusammenfiel. Schließlich, als sie schon nichts mehr Menschliches an sich hatte, verlor sie den Halt und rutschte zur Seite weg.
Noch bevor ihr Körper auf dem Boden aufschlug, war sie verschwunden.
16. Kapitel
„Lily?“
Nach dem dritten Ruf wurde der Tonfall drängender, doch er erreichte nur den Rand meines Bewusstseins. Meine Augen blieben auf dieselbe Stelle gerichtet, dort, wo eben noch ein Mädchen aus Fleisch und Blut gewesen war – und dann plötzlich nicht mehr. Längst hatten sich die Sprenkel auf dem grauen Fußboden in meine Netzhaut eingebrannt; auch mit geschlossenen Lidern hätte ich sie noch sehen können.
Ein seltsam schleifendes Geräusch holte mich endlich in die Realität zurück. Ich schaute zur Seite und erkannte Sam, der auf mich zugekrochen kam. Das verletzte Bein zog er dabei hinter sich her wie eine unnütze Last. Er hinterließ eine breite Blutspur und sah so aus, als müsste er sich gleich übergeben, aber seine Stimme war fest. „Lily, hör mir zu. Es ist vorbei, okay? Dir kann nichts mehr passieren, wir sind in Sicherheit.“
Die Worte ergaben für mich keinen Sinn. Ich schüttelte den Kopf, und mein Nacken war vor Anspannung so steif, dass es wehtat. „Aber ich verstehe das nicht. Dina hat doch gesagt … Diese Prophezeiung in dem Buch …“
„War genauso missverständlich formuliert wie jede andere Prophezeiung auch“, meinte Sam. „Sie
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