Für jede Lösung ein Problem
dem Essen verabschiedeten sich alle, nur ich musste länger bleiben, um die Reste mitzunehmen.
Meine Mutter drückte mir die Schüssel namens Clarissa in die Hand. »Und sei so gut und bring das hier die Tage mal für mich zur Apotheke«, sagte sie und setzte noch einen Schuhkarton obenauf.
»Schuhe? In die Apotheke?«
»Blödsinn«, sagte meine Mutter. »Das sind alte Medikamente, und dein Vater erlaubt mir nicht, sie in den Müll zu werfen. Er sagt, das sei Sondermüll. In der Apotheke sammeln die doch immer für die armen Menschen in der Dritten Welt. Hast du wirklich eine Kontaktanzeige aufgegeben?«
»Nein. Aber ich habe auf eine geantwortet.« Ich lüftete vorsichtig den Deckel des Schuhkartons. »In der Dritten Welt brauchen die doch keine Nasentropfen, haltbar bis Juli 2004.«
»Es sind ja auch noch andere Sachen dabei«, sagte meine Mutter. »Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Die freuen sich in der Apotheke.« Sie seufzte. »Das hätte ich nie gedacht, dass es eine meiner Töchter mal nötig haben würde, auf eine Kontaktanzeige zu antworten. Aber du warst ja immer schon mein Sorgenkind.«
Ich hatte schon die nächste Schachtel in der Hand. »Dalmadorm. Das sind doch Schlaftabletten.« Jetzt war ich ehrlich verblüfft. Das konnte doch kein Zufall sein. Mein Puls beschleunigte sich ein wenig.
»Die lasse ich mir grundsätzlich in der Vorweihnachtszeit verschreiben«, sagte meine Mutter. »Aber als dein Vater in den Ruhestandging, da brauchte ich auch ganzjährig welche, für ihn gleich mit.« Sie rollte mit den Augen bei der Erinnerung daran.
»Die Schachtel ist noch zu«, sagte ich. Meine Hände hatten zu zittern begonnen, aber das merkte meine Mutter nicht.
»Natürlich«, sagte sie streng. »Hast du mal gelesen, was solche Mittel für Nebenwirkungen haben? Man kann ganz schnell davon abhängig werden. Ich würde so was niemals nehmen, und dein Vater auch nicht.«
»Aber warum habt ihr sie euch dann verschreiben lassen?«, fragte ich.
»Wie meinst du das?«, fragte meine Mutter zurück. »Ich habe es dir doch gerade erklärt: Wir konnten nicht schlafen! Jahrelang konnten wir kein Auge zutun! Die Arbeit, die Kinder, die Rente … Das ist doch kein Zustand. Schlaf ist lebenswichtig, das darf man auf keinen Fall auf die leichte Schulter nehmen.«
»Aber gerade hast du doch gesagt, du würdest so etwas nie nehmen«, sagte ich. O Gott, das waren ja Dutzende von Schachteln, alle noch originalverpackt.
»Man muss ja auch nicht immer alles mit Medikamenten regeln«, sagte meine Mutter. »Und wenn es unbedingt sein muss, dann gibt es immer noch das gute alte Baldrian, da schwöre ich ja drauf.«
»Ja, aber …«, begann ich.
»Warum fängt eigentlich jeder deiner Sätze mit einem aber an«, sagte meine Mutter. »Du warst immer schon so, nichts als Widersprüche. Das ist auch der Grund für deine Probleme mit Männern. Machst du dich nun nützlich und bringst du das Zeug zur Apotheke oder nicht?«
Ich gab es auf, das Paradoxon lösen zu wollen. »Von mir aus«, sagte ich. »Aber ich glaube nicht, dass sie in der Dritten Welt scharf auf Schlaftabletten sind.«
»Schon wieder ein aber «, seufzte meine Mutter und drückte mir einen Kuss auf die Wange, während sie mich zur Haustür dirigierte. »Ich wünschte wirklich , du würdest anfangen, ein bisschen positiver zu denken.« Sie fuhr mir mit der Hand durch die Haare. »Vor AlexasSilberhochzeit gehst du aber noch mal zum Friseur, ja? Ein paar Strähnchen würden dir sicher gut stehen. Sag Tirilu auf Wiedersehen, Schatz«, schrie sie über ihre Schulter.
»Wiedersehen, Gerri«, schrie mein Vater aus dem Wohnzimmer.
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, murmelte ich, aber meine Mutter hatte die Tür schon wieder hinter mir geschlossen.
Ich nahm den Schuhkarton mit nach Hause. Mir hätte niemand verboten, das Zeug in der Mülltonne zu entsorgen, nicht mal mein schlechtes Gewissen. Eine Kontaminierung der Müllkippe durch Nasentropfen und Schlaftabletten – was war das schon gegen Gorleben?
Aber ich hatte ja gar nicht vor, die Tabletten zu entsorgen. Sie waren die Antwort auf alle Fragen, die mich in den letzten beiden Tagen bewegt hatten. Es war eine Schicksalsfügung, dass ich diesen Schuhkarton ausgerechnet jetzt in die Finger bekam, wo ich ihn am besten gebrauchen konnte.
Es war so ähnlich wie damals, als ich mir das Notebook kaufen wollte und auf dem Flohmarkt eine signierte Erstausgabe von Thomas Manns »Buddenbrooks«
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