INAGI - Kristalladern
Kapitel I – Mondwende
DIE SONNE war lange hinter den Bergen im Westen versunken und hatte Tal und Minengelände in tiefen Schatten zurückgelassen. Doch Ishira und die anderen Frauen schenkten dem schwindenden Tageslicht kaum Beachtung, da ihre nähere Umgebung von den milchig schimmernden Kristallen auf den langen Holzgestellen vor ihnen beleuchtet wurde. Es wäre sogar in tiefster Nacht möglich gewesen, die Kristalle zu sortieren, und es grenzte an ein Wunder, dass die Gohari noch nicht auf die Idee gekommen waren, ihre Sklaven rund um die Uhr arbeiten zu lassen.
Mechanisch klaubten die Frauen die letzten Kristallbrocken vom Tisch und ließen sie ihrer Größe entsprechend in die Körbe hinter sich gleiten. Keine sprach ein Wort. Unauffällig streckte Ishira ihren schmerzenden Rücken. Der Arbeitstag vor einer Mondwende kam ihr jedes Mal endlos lang vor. Vermutlich, weil sie es nicht erwarten konnte, einen ganzen Tag mit den Menschen zu verbringen, die ihr nahestanden. Freie Zeit war knapp bemessen und darum umso kostbarer.
Lautes Rumpeln und Quietschen verriet das Nahen der nächsten Lore. Die beiden Jungen, deren schmächtige nackte Oberkörper vor Schweiß glänzten, mussten ihre gesamte Kraft aufbieten, um den kleinen, verbeulten Eisenwagen von den Schienen auf die hölzerne Plattform neben dem Sortiertisch zu schieben, an dem Ishira mit sieben anderen Frauen und Mädchen arbeitete. Mit geübtem Griff kurbelte einer der Jungen die Plattform nach oben, während der andere langsam die Lore kippte. Mit dumpfem Klirren landete ein neuer Schwung der kostbaren Steine auf dem grob gezimmerten, stabilen Tisch, dessen Ränder leicht hochgezogen waren, damit die Kristalle nicht herunterfallen konnten.
Der Junge strich sein feuchtes Haar zurück. »Das dürfte für heute die letzte Fuhre sein«, erklärte er erschöpft. So schnell, wie sie gekommen waren, verschwanden die beiden mit der leeren Lore wieder im düsteren Schlund des Berges.
Vorsichtig verteilten die Frauen die Kristalle auf dem Gestell. Das matte Licht sickerte durch ihre Finger und beleuchtete geisterhaft ihre Gesichter. Ishira griff nach einem der größeren Steine und drehte ihn in der Hand. Es war, als würde man ein Stück des Mondes in der Hand halten. Eines sterbenden Mondes, dessen Licht am Verlöschen war. Zuerst war es nur den Arbeitern direkt an der Ader aufgefallen, dass der Kristall trüber wurde, doch inzwischen konnte man es auch an den Bruchstücken deutlich erkennen.
Nicht, dass es eine Rolle spielte. Jedenfalls nicht für die Inagiri.
Plötzlich zuckte Ozami, die rechts neben ihr stand, leicht zusammen. Aus dem Augenwinkel bemerkte Ishira die breitschultrige Gestalt des Platzaufsehers. Obwohl er die inagischen Frauen um mehr als einen Kopf überragte, gelang es dem Reshir immer wieder, sich auf leisen Sohlen zu nähern und unerwartet neben ihnen aufzutauchen. In der rechten Hand hielt er locker die kurze geflochtene Peitsche, mit der er die Sortiererinnen antrieb, wenn sie ihm nicht schnell genug arbeiteten – oder wenn er seine schlechte Laune an ihnen auslassen wollte. Sofort machte sich unter den Frauen Anspannung breit. Einige nahmen unwillkürlich eine geduckte Haltung ein, als wollten sie sich gegen einen Schlag aus heiterem Himmel wappnen.
Rasch legte Ishira den Kristall in den Tragekorb hinter ihr. Er quoll schon beinahe über. Ozami musste es auch bemerkt haben, doch sie machte keine Anstalten, ihn zum Ausleeren zu bringen. Im Gegenteil schien sie mit Bedacht nur noch kleinere Kristalle auszuwählen. Ishira unterdrückte eine bissige Bemerkung. Dass Ozami, ein Jahr jünger als sie und so zierlich, dass sie beinahe zerbrechlich wirkte, sich nicht gerade um die Aufgabe riss, die vollen Körbe zu den Wagen zu schleppen, konnte sie ja verstehen. Aber auch wenn es ihr selbst weniger ausmachte, schwere Lasten zu tragen, war sie es leid, dass die anderen Frauen von ihr erwarteten, dass sie die Körbe ausleerte. Brach sie dieses ungeschriebene Gesetz, rächten sich die Sortiererinnen, indem sie ihr das Leben auf andere Weise schwer machten. Sich bei ihr zu bedanken, wäre ihnen hingegen in hundert Jahren nicht in den Sinn gekommen. Trotzig beschloss Ishira, es diesmal darauf ankommen zu lassen. Obwohl ihr der Blick des Aufsehers im Nacken brannte, nahm auch sie nur noch kleinere Kristalle vom Tisch.
Scharfer Schmerz zuckte über ihre Schultern und entriss ihr einen erschrockenen Aufschrei.
»Wieso bringt keine von euch die
Weitere Kostenlose Bücher