Gabriel Labert
völlig befriedigt sein.«
Ich setzte mich an den Tisch, auf den er das Register gelegt hatte, und las:
»Ich, Laurent Chiverny, Aufseher erster Klasse, erkläre, daß ich heute, am fünften Juni eintausendachthunderteinundvierzig, als ich während der den Verurteilten wegen der großen Hitze bewilligten Ruhestunde auf der Werft meine Runde machte, den zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilten Gabriel Lambert aufgehängt an einem Maulbeerbaum gefunden habe, in dessen Schatten sein Kettengenosse André Toulman, genannt Rossignol, schlief oder zu schlafen sich den Anschein gab.
Bei diesem Anblick war meine erste Sorge, den letzteren zu wecken, er gab das größte Erstaunen über dieses Ereignis kund und behauptete, durchaus nicht daran mitschuldig zu sein. Nachdem man den Leichnam niedergelegt hatte, durchsuchte man ihn und fand einen Zettel, der Rossignol völlig entlastete.
Da sich jedoch der Verurteilte kaum ohne die Hilfe seines Gefährten aufgehängt haben kann, insofern er durch eine nur zwei und einen halben Fuß lange Kette an ihn gebunden war, so beantrage ich bei dem Herrn Inspektor, André Toulman, genannt Rossignol, auf einen Monat ins Gefängnis zu schicken.
Laurent Chiverny,
Aufseher erster Klasse.«
Darunter waren mit einer anderen Handschrift und mit einem Federzug unterzeichnet folgende Zeilen geschrieben:
»Den Gabriel Lambert diesen Abend begraben und den Rossignol sogleich auf vierzehn Tage ins Gefängnis schicken.
V. B.«
Ich nahm eine Abschrift von dem Protokoll und lege es meinen Lesern, ohne ein Wort daran zu verändern, vor; sie werden darin mit der Bestätigung dessen, was mir Rossignol geschrieben, den Schluß der von mir erzählten Geschichte fi nden.
Dem füge ich nur bei, daß ich den Scharfsinn des ehrenwerten Aufsehers Meister Laurent Chiverny bewundere, der erraten hatte, daß in dem Augenblick, wo man den Leichnam von Gabriel Lambert fand, sein Gefährte André Toulman, genannt Rossignol, zwar zu schlafen schien, aber nicht schlief.
Nachwort
Wie im »Grafen von Monte Christo«, dem wohl bekanntesten Roman Alexandre Dumas’, wird auch in diesem vom Umfang her bescheidenen Bericht über das Schicksal des Galeerensträfl ings Gabriel Lambert eine Zeit lebendig, die nach der Revolution von und der Konsolidierung der bürgerlichen Herrschaft durch Napoleon I. zu einer stürmischen wirtschaftlichen Entwicklung und einer tiefgreifenden sozialen Umschichtung führte. Als nach der Schlacht bei Waterloo wieder die Bourbonen mit Ludwig XVIII. die Macht in Frankreich übernahmen, gelang es ihnen zwar, den korrupten Adel zu rehabilitieren und ihm eine Reihe von politischen Ämtern zu übertragen. Die Bourgeoisie ließ sich jedoch aus ihren im Zuge der industriellen Revolution in der Wirtschaft, im Handel und in den Banken eroberten oder gefestigten Positionen nicht mehr verdrängen. Insbesondere die Finanzbourgeoisie entwickelte sich zur führenden Kraft innerhalb der bürgerlichen Klasse und meldete ihren Anspruch auf die politische Herrschaft, der Ablösung der restaurativen Kräfte und auf Übernahme der Regierung »durch die Bankiers« an. Wie sehr das Geld in dieser Zeit der zwanziger Jahre die Menschen korrumpierte, zeigt Balzac eindrucksvoll in seiner Geschichte vom Wucherer Gobseck, der durch sein Vermögen als »einer der zehn schweigsamen und unbekannten Könige von Paris« in allen Gesellschaftskreisen seinen unheilvollen Einfluß ausübte, und für die folgende Zeit in Romanen wie »Eugenie Grandet«, »Vater Goriot« und »Verlorene Illusionen«.
Als Alexandre Dumas im Jahre seinen »Gabriel Lambert« veröffentlichte, lagen diese Romane Balzacs bereits vor. Sosehr sich bei beiden Schriftstellern die thematischen Voraussetzungen und die literarischen Absichten auch ähneln, so unterschiedlich gehen doch beide in der Auswahl des darzustellenden Wirklichkeitsausschnitts vor. Ging es Balzac um eine wahrheitsgetreue Beschreibung der modernen bürgerlichen Gesellschaft durch die Erfassung aller für sie typischen Charaktere, so versuchte Dumas in Werken wie »Gabriel Lambert« seine Leser durch die Darstellung der außergewöhnlichen Schicksale derer zu gewinnen, die am »Rande der Gesellschaft« lebten, als Außenseiter ihre Zeit bewältigten und am Wohlstand der neureichen Bourgeois teilzuhaben versuchten.
Alexandre Dumas war dafür bekannt, daß er von Kindheit an außerordentlich belesen war, wobei er alles verschlang, was ihm in die
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