Gaelen Foley - Amantea - 01
heutzutage so auf- rührerisch?“ beschwerte sich die Gattin des Mannes mit vorwurfsvoller Miene. Blaue Edelsteine glitzerten an ih- rem Hals und hingen an ihren Ohrläppchen. „Sie be- klagen sich doch immer über irgendetwas. Sie sind so reizbar, so zornig! Verstehen sie denn nicht, dass sie al- les hätten, was sie brauchen, wenn sie nur nicht so faul wären?“
„Faul?“ wiederholte Allegra.
„Nein, nicht schon wieder.“ Domenico seufzte. Er senkte den Kopf und bedeckte mit einer Hand seine Augen.
„Ganz richtig, meine Liebe“, bekräftigte der alte Mann die Erklärung seiner Frau. „Ich sage immer – sie müssen nur ihre Arbeit verrichten und endlich aufhören, andere für ihre Schwierigkeiten verantwortlich zu machen.“
„Und was ist mit der letzten Erhöhung der Steuern?“ wollte Allegra wissen. „Sie haben nicht einmal genug Brot, um die Münder ihrer Kinder zu stopfen.“
„Was? Steuern? Oje!“ rief die wohlbeleibte Dame aus und schaute durch ihr Monokel beunruhigt die junge Frau an.
„Es wird über einen Bauernaufstand geredet, wissen Sie“, bemerkte eine andere in einem vertrauensseligen Tonfall.
Allegra holte Luft, um eine Erklärung abzugeben.
„Liebling, bitte nicht“, murmelte Domenico. „Ich bin keineswegs geneigt, wieder den ganzen Abend aufge- brachte Gemüter zu beschwichtigen.“
„Sie werden uns umbringen, wenn wir uns nicht in Acht nehmen.“ Der alte Mann nickte bedeutungsvoll. „Wie tollwütige Hunde.“
„Nun, denken Sie nicht daran“, erwiderte Allegra ge-
spielt fröhlich. „Nur der Hunger lässt sie rebellisch wer- den. Möchten Sie etwas Kuchen? Marzipan? Vielleicht ein paar Pralinen?“ Sie winkte einen der Lakaien heran, trat dann einen Schritt zurück und beobachtete, wie die Gäste sich wie Trüffelschweine auf die Leckerbissen stürzten.
Mit frisch gepuderten Perücken und äußerst elegan- ten Roben drängten sich die Gäste um die erlesenen Sü- ßigkeiten und Pastetchen, die auf dem silbernen Tablett des Dieners dargeboten wurden. Als sie die Stücke gierig in die Münder schoben, bestäubten sie ihre vornehmen Gewänder mit Puderzucker.
Domenico sah Allegra mit der für ihn typischen Lei- densmiene an. „Liebling“, sagte er. „Also wirklich!“
„Es ist doch wahr“, erwiderte sie erbost. Diese betag- ten Aristokraten waren für keinerlei Reformen zugänglich. Unter den weißen Perücken waren ihre Gehirne vermo- dert, während unter der teuren Kleidung ihre Herzen wie getrocknete Pflaumen geschrumpft waren. Der Geist, der momentan herrschte, verlangte nach Erneuerung und mo- dernen Ideen. Leute wie sie würden wie Staub vom Tisch gefegt werden.
„Wie wäre es mit einem Tanz?“
Allegra lächelte flüchtig. „Sie versuchen, mich wieder davon abzuhalten, meine Meinung zu äußern.“
Er erwiderte ihr Lächeln und beugte sich zu ihr, um ihr ins Ohr zu raunen: „Nein, ich möchte Sie nur berühren.“
Oje, er hat wohl tatsächlich mit seiner Geliebten gestrit- ten. „Ich verstehe“, erwiderte sie kühl.
Währenddessen bemerkte Allegra, wie die teiggesichtige Herzogin mit der Frau, die neben ihr stand, zu flüstern be- gann. Beide warfen Allegra böse Blicke zu und musterten die grünschwarze Schärpe, die sie zu ihrem hoch taillierten Gewand aus weißer Seide trug.
Wenn die Damen vielleicht auch nicht verstanden, dass ihr Kleid dem neuen schlichten Stil entsprach, der den demokratischen Idealen entsprang, dann verärgerte sie bestimmt die Tatsache, dass sie Grün und Schwarz trug.
Sie hob den Kopf, um zu zeigen, dass sie sich nicht ein- schüchtern ließ. Möglicherweise scherte sich kein Mensch im Großen Salon darum, ob die Bauern außerhalb der Pa- lastmauern hungerten oder nicht. Doch sie tat es, und da
es die einzige Art war, ihren Protest öffentlich kundzu- tun, hatte sie beschlossen, sich mit den alten Farben von Amantea zu schmücken.
Allegra hatte die Idee von den eleganten und erfahrenen Gastgeberinnen bekommen, denen Tante Isabelle sie in Pa- ris vorgestellt hatte. Diese Damen hatten rot-weiß-blaue Schärpen getragen, um ihre Sympathie für die amerika- nischen Kolonialisten während des Krieges mit England zu bekunden. Allegra hatte diesen Einfall übernommen, als sie vor sechs Monaten auf Amantea eingetroffen war. Doch sie musste feststellen, dass Frauen, die eine politi- sche Meinung äußerten, mit Missbilligung bedacht wurden – vor allem, wenn ihre Ansichten denen der bestehenden Regierung entgegengesetzt
Weitere Kostenlose Bücher