Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)
musste mich den unumstößlichen Fakten stellen: Andreas litt an einer Krankheit. Nichts auf der Welt hätte das ändern können. Es hätte sich nicht geändert, wenn ich durchgedreht wäre und es hätte sich auch nicht geändert, wenn ich daran verzweifelt wäre. Also versuchte ich, das Beste daraus zu machen. Das Beste ist jedoch relativ, es ändert sich im Laufe der Zeit immer wieder.
Andreas war mein Kind und es gab keinen Zweifel daran, dass ich für ihn bis ans Ende der Welt gegangen wäre. Nun, ich hätte dann zwar am Ende der Welt gestanden, aber gebracht hätte es mir gar nichts. Seine Krankheit wäre immer noch da gewesen. Ich sage immer „die Krankheit“, aber das war es bis dato wirklich für mich: eine Krankheit ohne Namen. Natürlich versuchten die Ärzte, ihr einen zu geben, aber egal welchen sie einsetzten, keiner passte wirklich.
DIE ÄRZTE, DIE ICH TRAF
Ich habe viele Ärzte erlebt, gute Ärzte, schlechte Ärzte, diejenigen, die zuhörten und solche, die nur den Schriftzug „Hysterische Mutter“ auf meiner Stirn sahen. Ich habe Ärzte kennen gelernt, die ich im Laufe der Zeit von der Behandlung ausgeschlossen habe, weil sie mich belogen hatten. Aber ich habe auch sehr menschliche Ärzte erlebt, mit denen man auch mal Blödsinn machen konnte, die zu Andreas und mir ins Zimmer kamen, um einfach mal einen Plausch zu halten.
Ich habe tolle Schwestern erlebt, aber auch so manche Schwester, die einfach nur katastrophal war. Die meisten Schwestern trugen von dem Moment an, als Andreas und ich auf die Station kamen, immer irgendwelche Notfallmedikamente mit sich herum. Ich belächelte das, fand das putzig, aber irgendwie auch rührend. Ich habe immer versucht, mit seinen Anfällen gelassen umzugehen, habe versucht, für ihn einen Pol der Ruhe darzustellen, wenn sein kleiner Körper geschüttelt wurde. Ich habe jeden einzelnen Anfall gehasst, weil ich das Gefühl hatte, jeden einzelnen Anfall selbst zu spüren. Mütter fühlen den ganzen Schmerz ihrer Kinder am eigenen Körper, da bin ich keine Ausnahme.
Ich war jung und habe erst noch lernen müssen, mir nicht alles gefallen zu lassen, nicht zu allem einfach nur „ja“ zu sagen. Das, was ich über Epilepsie wissen musste, habe ich mir angelesen, mich konnte kein Arzt mehr mit irgendwelchen Fachausdrücken überraschen. Nie mehr. Ich wusste, was welche Medikamente anrichten konnten und war entsetzt, wie wenig Andreas’ Lebensqualität manchmal berücksichtigt wurde.
Ich habe gelernt, wie welche Medikamente bei Andreas wirkten, habe gelernt, die Dosierung anzupassen, wenn sie nicht mehr stimmte und wie ich einer plötzlich auftretenden Überdosierung eines bestimmten Medikaments wirksam begegnen konnte. Ich habe gelernt, mein Kind selbst umzustellen, auf andere Medikamente einzustellen, wenn ein neu eingesetztes die gleiche Wirkung wie ein Hustenbonbon zeigte.
Egal, was ich unternahm, egal, wie sehr ich versuchte, mich innerlich gegen seine Krankheit aufzulehnen, Andreas’ Anfallsleiden schien davon unbeeindruckt. Es tat was es wollte und so achtete ich stets darauf, dass wenigstens keine Verschlimmerung eintrat.
Unter all den Ärzten gab es einen einzigen, dem ich nach einiger Zeit voll und ganz vertraute, obwohl unsere erste Begegnung nicht gerade das war, was man Sympathie auf den ersten Blick nennen kann. Er hat Andreas bis ins Erwachsenenalter hinein betreut. Er war es, der immer offen mit uns sprach, der nichts beschönigte und dabei immer menschlich blieb. Er war es, der mir wenig mehr als vier Jahre nach dem ersten Anfall offen die Richtung sagte, in die Andreas gehen würde. Bis auf einen einzigen Punkt hat er in allem Recht behalten. Er hatte gesagt, dass Andreas nachts wahrscheinlich sein Leben lang gewickelt werden müsste. Andreas hat es jedoch geschafft, sich von diesem lästigen Teil zu befreien.
Er war es, der mir endlich etwas in die Hand gab, woran ich mich orientieren konnte, worauf ich unseren Alltag aufbauen konnte. Er sprach aus, dass Andreas sich weiter entwickeln würde, ungefähr bis zum Alter von 15 Jahren, aber dass er in etwa den Stand eines Sechsjährigen behalten würde, dass er nie lesen und schreiben können würde, dass er niemals selbstständig wohnen und leben würde, dass er immer auf Hilfe angewiesen sein würde.
Danke Ulli. Dafür, dass du mir so ein kleines Stück Leben zurückgegeben hast.
Kein anderer Arzt hatte sich zuvor getraut, klar und deutlich diese Fakten auszusprechen, obwohl ich immer danach
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