Lustnebel
Ein alter Cherokee-Indianer erzählt seiner Enkelin:
„Im Leben eines jeden Menschen gibt es zwei Wölfe, die miteinander kämpfen:
Der eine Wolf ist böse.
Er kämpft mit Hass, Ärger, Eifersucht, Sorgen, Gier und Arroganz,
Der andere Wolf ist gut.
Er kämpft mit Liebe, Vertrauen, Freundschaft, Hoffnung und Frieden.“
Die Enkelin überlegt eine Weile, ehe sie fragt:
„Welcher der beiden Wölfe gewinnt?“
„Der, den du fütterst.“
Indianische Legende
Prolog
Es war heiß. Unerträglich heiß. Unruhig wälzte sich Rowena in ihrem kunstvoll verzierten Bett. Sie glaubte, unter den Federbetten zu ersticken. Sie strampelte ihre Decken fort. Ihre Haut schien zu glühen, die Hitze lag wie ein bleiernes Gewicht auf ihrer Brust, und das Atmen fiel ihr schwer. Sie zerrte ihr Nachthemd herunter, warf es zu Boden und stöhnte befreit.
Ein Schweißfilm überzog ihren nackten Körper, und ein Tropfen bahnte sich bedächtig einen Weg zu ihrer Brustspitze. Ein aufregend sinnliches Gefühl breitete sich langsam in ihr aus. Wie von einer fremden Hand geführt, strichen ihre Finger zärtlich der Spur des Schweißtropfens entlang.
Sie blinzelte, als ihr auffiel, wie diesig es auf einmal wurde. Sie sah zum Fenster, sich vergewissernd, dass es geschlossen war. Vor der Scheibe schwebte dicker Nebel, und durch die Ritzen quollen dünne Rinnsale des Dampfes. Überrascht setzte sich Rowena auf. Durch die Türritzen drang ebenso dichter, weißer Dunst.
Sie hätte in Panik ausbrechen sollen, doch sie fühlte sich zu keiner Sekunde bedroht.
Im Gegenteil. Die Nebelschwaden türmten sich zusehends auf und krochen ihr umschmeichelnd entgegen. Erste Säulen erreichten sie, schlängelten sich liebkosend um ihre Knöchel und Schenkel, wohltuend wie eine kühle Windbrise an einem Hochsommertag. Sie seufzte genüsslich.
Dünne Fäden des Nebels strichen durch ihr Haar, ihren Nacken entlang. Sinnliche Liebkosungen aus Frische und Samtigkeit bahnten sich den Weg über ihre erhitzte Haut. Unfähig jeglicher Kontrolle sank sie seufzend zurück in die seidenen Kissen. Der Dunst streifte ihre Finger und Handgelenke und liebkoste erst zärtlich ihre Haut, kletterte fordernd ihre Arme empor, bis er sich fast vollständig wie ein schützender Kokon um Rowena schloss. Dichtere Schwaden folgten und umgaben ihren bebenden Leib fast komplett. Sie streichelten, massierten und weckten in ihr die Empfindung von unzähligen Händen, die sie gleichzeitig berührten.
Ein bis dahin unbekanntes Gefühl erfüllte sie von Kopf bis Fuß, umschloss jede Pore ihres Körpers und verankerte sich tief in ihrer Seele.
Befreit von den Zwängen und der Moral der Gesellschaft ließ sie sich in einen Rausch der Sinnlichkeit fallen mit dem Wunsch, er möge niemals enden.
Kapitel 1
Kein Mensch beginnt zu sein, bevor er seine Vision empfangen hat.
Spruch der Ojibway
Rowena blickte nervös zur Tür des Salons. „Ach Claire, du willst doch nicht allen Ernstes dorthin gehen?“ Claire Salinger streckte Rowena immer noch das elegante Büttenpapier entgegen.
„Bitte!“ Claire flehte mit ihren großen himmelblauen Augen ihre Cousine an, die bereits ahnte, dass sie nachgeben würde.
Seufzend nahm Rowena den Briefbogen an, las die Einladung ein weiteres Mal und ließ sich graziös auf die Chaiselongue sinken. „Bist du denn nicht auch neugierig? Immer bestimmt man über uns. Eine Lady darf dies nicht. Eine junge Dame hat das zu tun. Ich hasse das! Dorthin zu gehen, ist die einzig mögliche Antwort auf all dieses moralinsaure Gefasel, das wir über uns ergehen lassen müssen.“ Sie saß still, doch unter ihrer ruhigen Oberfläche brodelte es.
Rowena schwieg vorerst, um sich einen strategischen Plan zurechtzulegen, Claire doch noch umzustimmen. Das Ticken der Standuhr bezwang die Stille im Raum, und auf dem Flur wurde das Geplapper zweier Hausmädchen hörbar. Ein lautes Lachen ließ Rowena eindeutig auf die Zofe ihrer Mutter schließen. Sie liebte ihre Mutter, und seit dem Tod des Vaters vor einigen Jahren standen sie sich näher als je zuvor. Einzig der Umstand von Rowenas Ehelosigkeit führte zunehmend zu Spannungen. Seit ihrem Debüt vor drei Jahren war immer noch kein Verehrer in Sicht. Kein Wunder, Rowenas Ansichten über einen geeigneten Ehekandidaten unterschieden sich beträchtlich von denen ihrer energischen Mutter Florence Partridge, Countess of Darnley. Da es noch kein Kandidat geschafft hatte, ihrer beider Ansprüche zu genügen,
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