Gai-Jin
hier liegen, sind langsam und werden erst in einer Woche in Hongkong sein. Der Postdampfer wäre das schnellste Schiff. Wir könnten ihn auf der Stelle umkehren lassen, aber er fährt via Shanghai.«
Nach gestern wirkte die Vorstellung einer elftägigen Seereise erschreckend auf Malcolm. Dennoch sagte er: »Sprechen Sie mit dem Kapitän. Versuchen Sie ihn zu überreden, auf direktem Weg nach Hongkong zurückzukehren. Was ist sonst noch in der Post?«
»Ich hab sie noch nicht durchgesehen, aber hier…« Äußerst beunruhigt über Struans plötzliche Blässe, reichte McFay ihm den Hong Kong Observer. »Nur schlechte Nachrichten, leider: Der Amerikanische Bürgerkrieg tobt immer heftiger, geht hin und her, kostet Tausende von Toten – Schlachten bei Shiloh, Fair Oaks und eine bei Bull Run, bei der die Unionsarmee unterlegen ist und dezimiert wurde. Die Hinterlader, Maschinengewehre und Schnellfeuerkanonen haben den Krieg endgültig verändert. Aufgrund der Blockade im Süden steigen die Baumwollpreise ins Astronomische. Eine weitere Panik an der Londoner Börse und in Paris – Gerüchte, daß Preußen jeden Moment in Frankreich einmarschieren wird. Seit der Prinzgemahl im Dezember starb, hat sich Queen Victoria noch nicht wieder in der Öffentlichkeit gezeigt – es heißt, daß sie sich zu Tode grämt. Mexiko: Nachdem feststeht, daß der verrückte Napoleon III. entschlossen ist, das Land zu einem katholischen Staat und einer französischen Domäne zu machen, haben wir unsere Streitkräfte abgezogen. Hungersnot und Aufstände in ganz Europa.« McFay zögerte. »Kann ich Ihnen etwas bringen?«
»Einen neuen Magen.« Struan warf einen Blick auf den Umschlag in seiner Hand. »Lassen Sie mir die Zeitung hier, Jamie, gehen Sie die Post durch, und kommen Sie anschließend zurück. Dann können wir entscheiden, was getan werden muß, bevor ich abreise…« Ein leichtes Geräusch ließ beide zur Tür zum Nebenzimmer hinübersehen, die jetzt halb offen war. Dort stand Angélique in einem eleganten Morgenmantel über dem Nachthemd.
»Hallo, chéri«, sagte sie sofort. »Ich dachte, ich hätte Stimmen gehört. Wie geht es dir heute? Guten Morgen, Jamie. Malcolm, du siehst viel besser aus. Kann ich dir etwas bringen?«
»Nein, vielen Dank. Komm bitte herein. Nimm Platz, du siehst wundervoll aus. Hast du gut geschlafen?«
»Eigentlich nicht, aber das macht nichts«, antwortete sie, obwohl sie hervorragend geschlafen hatte. Von einer Wolke ihres Parfüms umgeben, berührte sie ihn liebevoll und setzte sich. »Wollen wir zusammen frühstücken?«
McFay riß seinen Blick von ihr los. »Sobald ich alles arrangiert habe, komme ich hierher zurück. Ich werde George Babcott informieren.«
Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, strich sie Struan über die Stirn, und er griff liebevoll nach ihrer Hand. Dabei glitt der Umschlag zu Boden. Sie hob ihn auf – mit leichtem Stirnrunzeln. »Warum so traurig?«
»Vater ist tot.«
Seine Trauer rührte sie zu Tränen. Das Weinen war ihr schon immer sehr leichtgefallen; sie konnte die Tränen fast auf Kommando zum Fließen bringen und hatte von klein auf immer wieder gemerkt, welche Wirkung sie damit bei anderen erzielte, vor allem bei ihrem Onkel und ihrer Tante. Sie brauchte nur an ihre Mutter zu denken, die bei der Geburt ihres Bruders gestorben war. »Aber Angélique«, sagte die Tante jedesmal unter Tränen, »der arme, kleine Gérard ist dein einziger Bruder, du wirst niemals einen anderen haben, keinen echten, selbst wenn dein nichtsnutziger Vater noch einmal heiratet.«
»Ich hasse ihn.«
»Der arme Kleine. Seine Geburt war grauenvoll.«
»Ist mir egal. Er hat Maman umgebracht, er hat sie getötet!«
»Nicht weinen, Angélique…«
Als Struan nun dieselben Worte aussprach, kamen die Tränen so leicht, weil sie aufrichtig mit ihm fühlte. Der arme Malcolm – den Vater zu verlieren. Er war ein netter Mann, zu mir war er jedenfalls nett. Und der arme Malcolm versucht so tapfer zu sein. Macht nichts, bald wird es dir wieder gutgehen, und nun ist es viel leichter, bei dir zu bleiben, nachdem der Gestank weg ist. Ganz plötzlich stieg das Bild ihres Vaters vor ihr auf: »Vergiß nicht, daß dieser Malcolm bald alles erben wird, die Schiffe, die Macht und…«
Ich will nicht daran denken. Und auch nicht… an das andere.
Sie trocknete sich die Augen. »So. Also. Und nun erzähl mir bitte alles.«
»Es gibt nicht viel zu erzählen. Vater ist tot. Die Beerdigung hat vor
Weitere Kostenlose Bücher