Galgeninsel
wechselte zu organisatorischen Dingen und dachte nicht weiter darüber nach, aus welchen Gründen eine Familie Anwälte benötigte.
»Haben Sie einen Schlüssel zur Wohnung ihres Mannes?«
»Ich bitte Sie! Natürlich nicht!«, bekam er mit einem Hauch leichter Entrüstung zu hören.
»Wissen Sie vielleicht, wer über einen Schlüssel verfügt. Ich lasse Wohnungen ungern gewaltsam öffnen.«
Sie nickte verständnisvoll und nahm das Handy vom Tisch. Mit zusammengekniffenen Augen blätterte sie in der Liste des Telefonbuchs und sagte schließlich: »Frau Schaufler. Sie ist die Putzfrau und dann ist da noch die Sekretärin«, sie unterbrach kurz, »den Namen weiß ich nicht, aber die Nummer kann ich Ihnen geben. Das Büro von Kandras befindet sich im Haus, direkt unter der Wohnung. Die Sekretärin hat sicher auch einen Schlüssel.«
Schielin notierte sich Namen und Telefonnummern und fragte währenddessen, ohne sie dabei anzusehen: »Machen Sie sich eigentlich Sorgen um Ihren Mann?«
Er kritzelte umständlich herum, weil sie schwieg und er sie nicht ansehen wollte. Endlich hörte er: »Die Fragestellung trifft nicht zu.«
Er verbarg seine Verwunderung.
»Haben Sie irgendeine Vorstellung davon, wo Ihr Mann sein könnte, oder was geschehen sein könnte? Ich gehe davon aus, dass eine solche Situation in der Vergangenheit noch nicht vorgekommen ist.«
Ihre Stimme klang ein wenig verständnisvoller als zuvor. »Sie vermuten richtig. Das ist eine völlig neue Situation. Allerdings habe ich dafür keinerlei Erklärung.«
Schielin sah für einen kurzen Augenblick in ihre dunklen Augen. Was war geschehen, dass diese Frau es unter allen Umständen vermied, von Kandras als von ihrem Mann zu reden?
»Kennen Sie Herrn Dr. Kehrenbroich?«
Sie nickte. »Natürlich. Wir verkehren im selben Bekanntenkreis und es gibt zudem geschäftliche Beziehungen.«
»Schließen Sie in das wir ihren Mann mit ein?«
Sie lachte kurz und leise. Es klang vergnügt, doch lag eine tiefe Ehrlichkeit in dieser kurzen emotionalen Unachtsamkeit. »Nein. Kandras zählt nicht dazu. Mit Doktor Kehrenbroich verbinden mich vor allem geschäftliche Dinge.«
Schielin setzte ein Bestätigungslächeln auf und meinte: »Ja. Es ist schön, wenn man gute Freunde hat.«
Ein neutrales »Mhm« blieb ihre Antwort.
Er kam zur Ansicht, dass er es fürs Erste bei diesem Gespräch belassen sollte und verabschiedete sich gekonnt hölzern. Nicht jedoch, ohne vorher in einem günstigen Moment seinen Autoschlüssel im Polster des Sessels zu deponieren. Er war einfach neugierig geworden, für wen die zweite Liege vorgesehen war. Vielleicht für die Tochter, aber man konnte ja nicht wissen. Langsam ging er zum Auto, wartete vier Minuten, und ging dann zurück. Das Tor wurde wieder sofort geöffnet. Die Liegen waren immer noch leer, doch die Tür stand halb offen. Er klopfte höflicherweise an, blieb im Eingang stehen und rief ein lautes »Hallo«, denn dieser sorgenlose Empfang konnte unmöglich für ihn sein. Anna Kandras kam mit schnellen Schritten die Treppe herunter, blieb auf halber Höhe stehen und sah ihn verwundert an. Er gab den Tölpel, hob entschuldigend die Hände und log, dass er seinen Schlüssel wohl habe liegen lassen, was sie offensichtlich zu erleichtern schien, denn sie lächelte mild und verständnisvoll, geleitete ihn zur Terrasse und tatsächlich lag da dieser hilfreiche Schlüssel im Polster. Er grinste verlegen, verabschiedete sich erneut und wandte sich dem Ausgang zu.
Er wusste nicht, wo sie plötzlich hergekommen war. Vielleicht hatte er sie auch beim Eintreten übersehen. Am Flügel stand ein schlankes hübsches Kind mit bleichem Gesicht, roten Lippen und langen, glatten schwarzen Haaren. Eine psychedelische Kopie von Anna Kandras. Stille umgab den reglosen Körper, der in leichten weiten, in Blautönen changierenden Stoff gekleidet war. Allein die Augen bewegten sich, folgten Schielins langsamer werdenden Schritten. Dunkle Augen, denen noch der entschlossene Glanz der Mutter fehlte, fixierten ihn stumm. Und da war noch etwas anderes, eine besondere Kraft, die von ihr ausging. Er überlegte und ihm fiel das Wort Aura ein. Diese elfenhafte Erscheinung also war Anna Kandras’ Tochter. Er dachte an seine beiden Töchter, die schon etwas älter waren. Vierzehn und siebzehn. Aber der Unterschied war fühlbar. Seinen beiden war jegliche Elfenhaftigkeit fern.
»Das ist Nora«, hörte er Anna Kandras in seinem Rücken sagen. Er nickte dem
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